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bender Tätigkeit nicht vergessen gemacht, verzehrt und ver-scheucht wird. Um vier erfolgte der Vespertee mit Kuchen und Eingemachtem, etwas Bewegung im Freien sodann, hierauf abermals Ruhe im Stuhl, um sieben das Abendessen, welches, wie überhaupt die Mahlzeiten, gewisse Spannungen und Se-henswürdigkeiten mit sich brachte, auf die man sich freuen konnte, danach ein oder der andere Blick in den stereoskopi-schen Guckkasten, das kaleidoskopische Fernrohr und die kine-matographische Trommel . . . Hans Castorp hatte den Tageslauf bereits am Schnürchen, wenn es auch viel zu viel gesagt wäre, daß er schon »eingelebt«, wie man es nennt, gewesen sei.

Im Grunde hat es eine merkwürdige Bewandtnis mit diesem Sicheinleben an fremdem Orte, dieser — sei es auch — mühseli-gen Anpassung und Umgewöhnung, welcher man sich beinahe um ihrer selbst willen und in der bestimmten Absicht unter-zieht, sie, kaum daß sie vollendet ist, oder doch bald danach, wieder aufzugeben und zum vorigen Zustande zurückzukehren. Man schaltet dergleichen als Unterbrechung und Zwischenspiel in den Hauptzusammenhang des Lebens ein, und zwar zum Zweck der »Erholung«, das heißt: der erneuernden, umwälzen-den Übung des Organismus, welcher Gefahr lief und schon im Begriffe war, im ungegliederten Einerlei der Lebensführung sich zu verwöhnen, zu erschlaffen und abzustumpfen. Worauf beruht dann aber diese Erschlaffung und Abstumpfung bei zu langer nicht aufgehobener Regel? Es ist nicht so sehr körperlich-geistige Ermüdung und Abnutzung durch die Anforderungen des Lebens, worauf sie beruht (denn für diese wäre ja einfache Ruhe das wiederherstellende Heilmittel); es ist vielmehr etwas Seelisches, es ist das Erlebnis der Zeit, - welches bei ununter-brochenem Gleichmaß abhanden zu kommen droht und mit dem Lebensgefühle selbst so nahe verwandt und verbunden ist, daß das eine nicht geschwächt werden kann, ohne daß auch das andere eine kümmerliche Beeinträchtigung erführe. Über, das Wesen der Langenweile sind vielfach irrige Vorstellungen ver-breitet. Man glaubt im ganzen, daß Interessantheit und Neuheit des Gehaltes die Zeit »vertreibe«, das heißt: verkürze, während Monotonie und Leere ihren Gang beschwere und hemme. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Leere und Monotonie mögen zwar den Augenblick und die Stunde dehnen und »langweilig« machen, aber die großen und größten Zeitmassen verkürzen

und verflüchtigen sie sogar bis zur Nichtigkeit. Umgekehrt ist ein reicher und interessanter Gehalt wohl imstande, die Stunde und selbst noch den Tag zu verkürzen und zu beschwingen, ins Große gerechnet jedoch verleiht er dem Zeitgange Breite, Ge-wicht und Solidität, so daß ereignisreiche Jahre viel langsamer vergehen als jene armen, leeren, leichten, die der Wind vor sich her bläst, und die verfliegen. Was man Langeweile nennt, ist also eigentlich vielmehr eine krankhafte Kurzweiligkeit der Zeit infolge von Monotonie: große Zeiträume schrumpfen bei un-unterbrochener Gleichförmigkeit auf eine das Herz zu Tode er-schreckende Weise zusammen; wenn ein Tag wie alle ist, so sind sie alle wie einer; und bei vollkommener Einförmigkeit würde das längste Leben als ganz kurz erlebt werden und un-versehens verflogen sein. Gewöhnung ist ein Einschlafen oder doch ein Mattwerden des Zeitsinnes, und wenn die Jugendjahre langsam erlebt werden, das spätere Leben aber immer hurtiger abläuft und hineilt, so muß auch das auf Gewöhnung beruhen. Wir wissen wohl, daß die Einschaltung von Um- und Neuge-wöhnungen das einzige Mittel ist, unser Leben zu halten, unse-ren Zeitsinn aufzufrischen, eine Verjüngung, Verstärkung, Ver-langsamung unseres Zeiterlebnisses und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen. Dies ist der Zweck des Orts- und Luftwechsels, der Badereise, die Erholsamkeit der Abwechslung und der Episode. Die ersten Tage an einem neuen Aufenthalt haben jugendlichen, das heißt starken und breiten Gang, - es sind etwa sechs bis acht. Dann, in dem Maße, wie man »sich einlebt«, macht sich allmähliche Verkürzung bemerk-bar: wer am Leben hängt oder, besser gesagt, sich ans Leben hängen möchte, mag mit Grauen gewahren, wie die Tage wieder leicht zu werden und zu huschen beginnen; und die letzte Woche, etwa von vieren, hat unheimliche Rapidität und Flüch-tigkeit. Freilich wirkt die Erfrischung des Zeitsinnes dann über die Einschaltung hinaus, macht sich, wenn man zur Regel zu-rückgekehrt ist, aufs neue geltend: die ersten Tage zu Hause werden ebenfalls, nach der Abwechslung, wieder neu, breit und jugendlich erlebt, aber nur einige wenige: denn in die Regel lebt man sich rascher wieder ein, als in ihre Aufhebung, und wenn der Zeitsinn durch Alter schon müde ist oder - ein Zei-chen von ursprünglicher Lebensschwäche - nie stark entwickelt war, so schläft er sehr rasch wieder ein, und schon nach vier-

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undzwanzig Stunden ist es, als sei man nie weg gewesen, und als sei die Reise der Traum einer Nacht.

Diese Bemerkungen werden nur deshalb hier eingefügt, weil der junge Hans Castorp Ähnliches im Sinne hatte, als er nach einigen Tagen zu seinem Vetter sagte (und ihn dabei mit rotge-äderten Augen ansah):

»Komisch ist und bleibt es, wie die Zeit einem lang wird zu Anfang, an einem fremden Ort. Das heißt . . . Selbstverständlich kann keine Rede davon sein, daß ich mich langweile, im Ge-genteil, ich kann wohl sagen, ich amüsiere mich königlich. Aber wenn ich mich umsehe, retrospektiv also, versteh' mich recht, kommt es mir vor, als ob ich schon wer weiß wie lange hier oben wäre, und bis dahin zurück, wo ich ankam und nicht gleich verstand, daß ich da war, und du noch sagtest: ›Steige nur aus!‹ - erinnerst du dich? -, das scheint mir eine ganze Ewigkeit. Mit Messen und überhaupt mit dem. Verstand hat das ja absolut nichts zu tun, es ist eine reine Gefühlssache. Natürlich wäre es albern, zu sagen: ›Ich glaube schon zwei Monate hier zu sein‹, -das wäre ja Nonsens. Sondern ich kann eben nur sagen: »Sehr lange‹.«

»Ja«, antwortete Joachim, das Thermometer im Munde, »ich. habe auch gut davon, ich kann mich gewissermaßen an dir fest-halten, seit du da bist.« Und Hans Castorp lachte darüber, daß Joachim dies so einfach, ohne Erklärung, sagte.

Er versucht sich in französischer Konversation

Nein, eingelebt war er noch keineswegs, weder was die Kennt-nis des hiesigen Lebens in all seiner Eigentümlichkeit betraf, — eine Kenntnis, die er in so wenigen Tagen unmöglich gewinnen konnte und, wie er sich sagte (und es auch gegen Joachim aus-sprach), selbst in drei Wochen leider nicht würde gewinnen können; noch auch in bezug auf die Anpassung seines Organis-mus an die so sehr eigentümlichen atmosphärischen Verhältnis-se bei »denen hier oben«, denn diese Anpassung wurde ihm sauer, überaus sauer, ja, wie ihm schien, wollte sie überhaupt nicht vonstatten gehen.

Der Normaltag war klar gegliedert und fürsorglich organi-siert, man kam rasch in Trott und gewann Geläufigkeit, wenn man sich seinem Getriebe einfügte. Im Rahmen der Woche je-

doch und größerer Zeiteinheiten unterlag er gewissen regelmä-ßigen Abwandlungen, die sich erst nach und nach einfanden, die eine zum erstenmal, nachdem die andere sich schon wieder-holt hatte; und auch was die alltägliche Einzelerscheinung von Dingen und Gesichtern betraf, so hatte Hans Castorp noch auf Schritt und Tritt zu lernen, obenhin Angeschautes genauer zu bemerken und Neues mit jugendlicher Empfänglichkeit in sich aufzunehmen.