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»Tous les dé, monsieur«, sagte sie. »Tous les dé, vous sa-vez . . .«

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»Je le sais, madame«, antwortete Hans Castorp gedämpft. »Et je le regrette beaucoup.«

Die schlaffen Hautsäcke unter ihren jettschwarzen Augen waren so groß und schwer, wie er es noch bei keinem Men-schen gesehen. Ein leiser, welker Duft ging von ihr aus. Es war ihm sanft und ernst um das Herz.

»Merci«, sagte sie mit einer rasselnden Aussprache, die son-derbar zu der Gebrochenheit ihres Wesens stimmte, und der eine Winkel ihres großen Mundes hing tragisch tief hinab. Dann zog sie die Hand unter die Mantille zurück, neigte den Kopf und machte sich wieder ans Wandern. Hans Castorp aber sagte im Weitergehen:

»Du siehst, es hat mir nichts gemacht, ich bin ganz gut mit ihr fertig geworden. Ich werde überhaupt mit solchen Leuten ganz gut fertig, glaube ich, ich verstehe mich von Natur auf den Umgang mit ihnen, - meinst du nicht auch? Ich glaube sogar, ich komme mit traurigen Menschen im ganzen besser aus, als mit lustigen, weiß Gott, woran es liegt, vielleicht daran, daß ich «loch Waise bin und meine Eltern so früh verloren habe, aber wenn die Leute ernst und traurig sind und der Tod im Spiele ist, das bedrückt mich eigentlich nicht und macht mich nicht verle--en, sondern ich fühle mich dabei in meinem Element und je-denfalls besser, als wenn es so forsch zugeht, das liegt mir weni-ger. Neulich dachte ich: Es ist doch eine Albernheit von den hiesigen Damen, sich dermaßen vor dem Tode zu graulen und allem, was damit zusammenhängt, daß man sie ängstlich davor bewahren muß und das Viatikum bringt, wenn sie gerade essen. Nein, pfui, das ist läppisch. Siehst du nicht ganz gern einen Sarg? Ich sehe ganz gern mal einen. Ich finde, ein Sarg ist ein geradezu schönes Möbel, schon wenn er leer ist, aber wenn je-mand darin liegt, dann ist es direkt feierlich in meinen Augen. Begräbnisse haben so etwas Erbauliches, - ich habe schon manchmal gedacht, man sollte, statt in die Kirche, zu einem Be-gräbnis gehen, wenn man sich ein bißchen erbauen will. Die heute haben gutes schwarzes Zeug an und nehmen die Hüte ab und sehen auf den Sarg und halten sich ernst und andächtig, und niemand darf faule Witze machen, wie sonst im Leben. Das habe ich sehr gern, wenn sie endlich mal ein bißchen andächtig sind. Manchmal habe ich mich schon gefragt, ob ich nicht hätte Pastor werden sollen, - in gewisser Weise hätte das, glaube ich,

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nicht schlecht für mich gepaßt . . . Hoffentlich habe ich keinen Fehler im Französischen gemacht bei dem, was ich sagte?«

»Nein«, sagte Joachim. »›Je le regrette beaucoup‹ war ja so-weit ganz richtig.«

Politisch verdächtig!

Regelmäßige Abwandlungen des Normaltages fanden sich ein: zuerst ein Sonntag - und zwar ein Sonntag mit Kurmusik auf der Terrasse, wie er vierzehntägig erschien, eine Markierung der Doppelwoche also, in deren zweite Hälfte Hans Castorp von außen eingetreten war. An einem Dienstag war er gekommen, und so war es der fünfte Tag, ein Tag von Frühlingscharakter nach jenem abenteuerlichen Wettersturz und Rückfall in den Winter, - zart und frisch, mit reinlichen Wolken am hellblauen Himmel und mäßigem Sonnenschein über Hängen und Tal, die wieder ein ordnungsgemäßes Sommergrün angenommen hat-ten, da der Neuschnee denn doch zu raschem Versickern verur-teilt gewesen war.

Es war deutlich, daß jedermann sich befliß, den Sonntag zu ehren und auszuzeichnen; Verwaltung und Gäste unterstützten einander in diesem Bestreben. Gleich zum Morgentee gab es Streuselkuchen, an jedem Platz stand ein Gläschen mit ein paar Blumen, wilden Gebirgsnelken und sogar Alpenrosen, welche die Herren sich in das Knopfloch des Aufschlages steckten (Staatsanwalt Paravant aus Dortmund hatte sogar einen schwar-zen Schwalbenschwanz mit punktierter Weste angelegt), die Damentoiletten trugen das Gepräge festlicher Duftigkeit - Frau Chauchat erschien zum Frühstück in einer fließenden Spitzen-matinee mit offenen Ärmeln, worin sie, während die Glastür ins Schloß schmetterte, erst einmal Front machte und sich dem Saal gleichsam anmutig präsentierte, bevor sie sich schleichen-den Schrittes zu ihrem Tisch begab, und die sie so ausgezeichnet kleidete, daß Hans Castorps Nachbarin, die Lehrerin aus Kö-nigsberg, sich ganz begeistert darüber zeigte - und sogar das barbarische Ehepaar vom Schlechten Russentisch hatte dem Gottestag Rechnung getragen, indem nämlich der männliche Teil seine Lederjoppe mit einer Art von kurzem Gehrock und die Filzstiefel mit Lederschuhwerk vertauscht hatte, sie freilich

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auch heute ihre unsaubere Federboa, darunter aber eine grünsei-dene Bluse mit Halskrause, trug . . . Hans Castorp runzelte die Brauen, als er der beiden ansichtig wurde, und verfärbte sich, wozu er hier auffallend neigte.

Gleich nach dem zweiten Frühstück begann die Kurmusik auf der Terrasse; allerlei Blech- und Holzbläser fanden sich dort ein und spielten abwechselnd flott und getragen, fast bis zum Mittagessen. Während des Konzertes war die Liegekur nicht streng obligatorisch. Zwar genossen einige den Ohrenschmaus auf ihren Balkons, und auch in der Gartenhalle waren drei oder vier Stühle besetzt; aber die Mehrzahl der Gäste saß an den kleinen, weißen Tischen auf der gedeckten Plattform, während leichte Lebewelt, der es zu ehrbar scheinen mochte, auf Stühlen zu sitzen, die steinernen Stufen besetzt hielt, die in den Garten hinunterführten, und dort viel Frohsinn entfaltete: jugendliche Kranke beiderlei Geschlechts, von denen Hans Castorp die mei-sten schon dem Namen nach oder von Ansehen kannte. Hermi-ne Kleefeld gehörte dazu, sowie Herr Albin, der eine große ge-blümte Schachtel mit Schokolade herumgehen und alle daraus essen ließ, während er selbst nicht aß, sondern mit väterlicher Miene Zigaretten mit goldenem Mundstück rauchte; ferner der wulstlippige Jüngling vom »Verein Halbe Lunge«, Fräulein Levi, dünn und elfenbeinfarben, wie sie war, ein aschblonder jun-ger Mann, der auf den Namen Rasmussen hörte und seine Hän-de nach Art von Flossen aus schlaffen Gelenken in Brusthöhe hängen ließ, Frau Salomon aus Amsterdam, eine rot gekleidete Frau von reicher Körperlichkeit, die sich ebenfalls der Jugend beigesellt hatte und in deren bräunlichen Nacken jener lange Mensch mit gelichtetem Haar, der aus dem »Sommernachts-traum« spielen konnte und nun, mit den Armen seine spitzen Knie umschlingend, hinter ihr saß, unablässig seine trüben Blik-ke gerichtet hielt; ein rothaariges Fräulein aus Griechenland, ein anderes unbekannter Herkunft mit dem Gesicht eines Tapirs, der gefräßige Junge mit den dicken Brillengläsern, ein weiterer fünfzehn- oder sechzehnjähriger Junge, der ein Monokel ein-geklemmt hatte und beim Hüsteln den lang gewachsenen salz-löffelähnlichen Nagel seines kleinen Fingers zum Munde führ-te, ein kapitaler Esel offenbar - und noch andere mehr.