Dieser Junge mit dem Fingernagel, erzählte Joachim leise, sei nur ganz wenig leidend gewesen, als er gekommen sei, - ohne
Temperatur, und nur der Vorsicht halber sei er von seinem Va-ter, einem Arzt, heraufgeschickt worden und habe nach des Hofrats Urteile etwa drei Monate bleiben sollen. Jetzt, nach drei Monaten, habe er 37,8 bis 38 und sei recht krank. Aber er lebe ja auch so unvernünftig, daß er Maulschellen verdiene.
Die Vettern hatten ein Tischchen für sich, etwas abseits von den übrigen, denn Hans Castorp rauchte zu seinem schwarzen Bier, das er vom Frühstück mit herausgenommen hatte, und von Zeit zu Zeit schmeckte ihm seine Zigarre ein wenig. Benom-men vom Biere und von der Musik, die wie immer bewirkte, daß sein Mund sich öffnete und sein Kopf sich auf die Seite legte, betrachtete er mit geröteten Augen das sorglose Badele-ben ringsumher, wobei das Bewußtsein ihn durchaus nicht stör-te, sondern im Gegenteil dem Ganzen eine erhöhte Merkwür-digkeit, einen gewissen geistigen Reiz verlieh, daß alle diese Leute in ihrem Inneren von einem schwer aufzuhaltenden Zer-fall ergriffen waren und daß die meisten von ihnen in leichtem Fieber standen . . . Man trank perlende Kunstlimonade an den Tischchen, und auf der Freitreppe wurde photographiert. Andere tauschten dort Briefmarken, und das rothaarige Fräulein aus Griechenland zeichnete Herrn Rasmussen auf einem Block, wollte ihm dann aber das Bild nicht zeigen, sondern wandte sich, mit breiten, weit auseinander stehenden Zähnen lachend, hin und her, so daß er es lange nicht vermochte, ihr den Block zu entreißen. Hermine Kleefeld saß mit nur halb geöffneten Augen auf ihrer Stufe und schlug mit einer zusammengerollten Zeitung den Takt zur Musik, während sie sich von Herrn Albin ein Sträußchen Wiesenblumen an ihrer Bluse befestigen ließ, und der Wulstlippige, zu Frau Salomons Füßen sitzend, plauder-te gedrehten Halses zu ihr empor, indes der dünnhaarige Pianist ihr von hinten unverwandt in den Nacken blickte.
Die Ärzte kamen und mischten sich unter die Kurgesell-schaft, Hofrat Behrens in weißem und Dr. Krokowski in schwarzem Kittel. Sie gingen die Reihe der Tischchen entlang, wobei der Hofrat beinahe an jedem ein gemütliches Witzwort fallen ließ, so daß ein Kielwasser heiterer Bewegung seinen Weg bezeichnete, und stiegen dann zur Jugend hinab, deren weiblicher Teil sich sofort mit Wippen und schrägen Blicken um Dr. Krokowski scharte, während der Hofrat dem Sonntage zu Ehren der Herrenwelt das Kunststück mit seinem Schnürstie-
fel zeigte: er setzte seinen gewaltigen Fuß auf eine höhere Stufe, löste die Bänder, ergriff sie nach einer besonderen Praktik mit einer Hand und wußte sie, ohne die andere zu Hilfe zu neh-men, mit solcher Fertigkeit kreuzweise einzuhaken, daß alle sich wunderten und mehrere umsonst versuchten, es ihm gleichzu-tun.
Später erschien auch Settembrini auf der Terrasse, - er kam, auf seinen Spazierstock gestützt, aus dem Speisesaal, auch heute in seinem Flaus und seinen gelblichen Hosen, mit feiner, ge-weckter und kritischer Miene, sah sich um und näherte sich dem Tische der Vettern, indem er »Ah, bravo!« sagte und um die Erlaubnis bat, sich zu ihnen setzen zu dürfen.
»Bier, Tabak und Musik«, sagte er. »Da haben wir Ihr Vater-land! Ich sehe, Sie haben Sinn für nationale Stimmung, Inge-nieur. Sie sind in Ihrem Elemente, das freut mich. Lassen Sie mich etwas teilnehmen an der Harmonie Ihres Zustandes!«
Hans Castorp nahm seine Züge zusammen, - hatte es schon getan, als er des Italieners nur ansichtig geworden war. Er sagte:
»Sie kommen aber spät zum Konzert, Herr Settembrini, es muß ja bald aus sein. Hören Sie nicht gern Musik?«
»Nicht gern auf Kommando«, erwiderte Settembrini. »Nicht nach dem Wochenkalender. Nicht gern, wenn sie nach Apothe-ke riecht und mir von oben herab aus sanitären Gründen zuge-messen wird. Ich halte ein wenig auf meine Freiheit oder doch auf jenen Rest von Freiheit und Menschenwürde, der unserei-nem übrigbleibt. Bei solchen Veranstaltungen hospitiere ich, wie Sie im großen bei uns hospitieren, - ich komme auf eine Viertelstunde und gehe wieder meiner Wege. Das gibt mir die Illusion der Unabhängigkeit. . . Ich sage nicht, daß es mehr ist als eine Illusion, aber was wollen Sie, wenn sie mir eine gewisse Genugtuung bereitet! Mit Ihrem Vetter, das ist etwas anderes. Für ihn ist es Dienst. Nicht wahr, Leutnant, Sie betrachten es als zum Dienst gehörig. Oh, ich weiß, Sie kennen den Trick, in der Sklaverei Ihren Stolz zu bewahren. Ein verwirrender Trick. Nicht jedermann in Europa versteht sich darauf Musik? Fragten Sie nicht, ob ich mich als Liebhaber der Musik bekenne? Nun, wenn Sie ›Liebhaber‹ sagen (eigentlich entsann Hans Castorp sich nicht, so gesagt zu haben), der Ausdruck ist nicht übel ge-wählt, er hat einen Anflug zärtlicher Leichtfertigkeit. Gut denn, ich schlage ein. Ja, ich bin ein Liebhaber der Musik, - womit
nicht gesagt sein soll, daß ich sie sonderlich achte, - so etwa, wie ich das Wort achte und liebe, den Träger des Geistes, das Werkzeug, die glänzende Pflugschar des Fortschritts . . . Mu-sik .. . sie ist das halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unver-antwortliche, das Indifferente. Vermutlich werden Sie mir ein-wenden, daß sie klar sein könne. Aber auch die Natur kann klar sein, auch ein Bächlein kann klar sein, und was hilft uns das? Es ist nicht die wahre Klarheit, es ist eine träumerische, nichtssa-gende und zu nichts verpflichtende Klarheit, eine Klarheit ohne Konsequenzen, gefährlich deshalb, weil sie dazu verführt, sich bei ihr zu beruhigen . . . Lassen Sie die Musik die Gebärde der Hochherzigkeit annehmen. Gut! Sie wird damit unser Gefühl entflammen. Es kommt jedoch darauf an, die Vernunft zu ent-flammen! Die Musik ist scheinbar die Bewegung selbst, -gleichwohl habe ich sie im Verdachte des Quietismus. Lassen Sie mich die Sache auf die Spitze stellen: Ich hege eine politi-sche Abneigung gegen die Musik.«
Hier konnte Hans Castorp nicht umhin, sich aufs Knie zu schlagen und auszurufen, so etwas habe er denn doch in seinem Leben noch nicht gehört.
»Ziehen Sie es trotzdem in Erwägung!« sagte Settembrini lä-chelnd. »Die Musik ist unschätzbar als letztes Begeisterungsmit-tel, als aufwärts und vorwärts reißende Macht, wenn sie den Geist für ihre Wirkungen vorgebildet findet. Aber die Literatur muß ihr vorangegangen sein. Musik allein bringt die Welt nicht vorwärts. Musik allein ist gefährlich. Für Sie persönlich, Inge-nieur, ist sie unbedingt gefährlich. Ich sah es sofort an Ihren Ge-sichtszügen, als ich kam.«
Hans Castorp lachte.
»Ach, mein Gesicht dürfen Sie nicht ansehen, Herr Settembrini. Sie glauben nicht, wie die Luft bei Ihnen hier oben mir zusetzt. Es fällt mir schwerer, als ich dachte, mich zu akklimati-sieren.«
»Ich fürchte, Sie täuschen sich.«
»Nein, wieso! Weiß der Teufel, wie müde und heiß ich noch immer bin.«
»Ich finde doch, daß man der Direktion für die Konzerte dankbar sein muß«, sagte Joachim besonnen. »Sie betrachten die Sache ja von einem höheren Standpunkt, Herr Settembrini, so-zusagen als Schriftsteller, und da will ich Ihnen nicht widerspre-
chen. Aber ich finde doch, daß man hier dankbar sein muß für ein bißchen Musik. Ich bin gar nicht besonders musikalisch, und dann sind die Stücke, die gespielt werden, ja auch nicht weiter großartig, - weder klassisch noch modern, sondern nur einfach Blechmusik. Aber es ist doch eine erfreuliche Abwechslung. Es füllt ein paar Stunden so anständig aus, ich meine: es teilt sie ein und füllt sie im einzelnen aus, so daß doch etwas daran ist, während man sich hier sonst die Stunden und Tage und Wo-chen so schauderhaft um die Ohren schlägt . . . Sehen Sie, so eine anspruchslose Konzertnummer dauert vielleicht sieben Mi-nuten, nicht wahr, und die sind etwas für sich, sie haben Anfang und Ende, sie heben sich ab und sind gewissermaßen bewahrt davor, so unversehens im allgemeinen Schlendrian unterzuge-hen. Außerdem sind sie ja wieder noch vielfach eingeteilt, durch die Figuren des Stückes, und die wieder in Takte, so daß immer was los ist und jeder Augenblick einen gewissen Sinn bekommt, an den man sich halten kann, während sonst . . . Ich weiß nicht, ob ich mich richtig . . .«