Выбрать главу

»Bravo!« rief Settembrini. »Bravo, Leutnant! Sie bezeichnen sehr gut ein unzweifelhaft sittliches Moment im Wesen der Musik, nämlich dieses, daß sie dem Zeitablaufe durch eine ganz eigentümlich lebensvolle Messung Wachheit, Geist und Kost-barkeit verleiht. Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse der Zeit, sie weckt . . . insofern ist sie sittlich. Die Kunst ist sittlich, sofern sie weckt. Aber wie, wenn sie das Gegenteil tut? Wenn sie betäubt, einschläfert, der Aktivität und dem Fortschritt entgegenarbeitet? Auch das kann die Musik, auch auf die Wirkung der Opiate versteht sie sich aus dem Grunde. Eine teuflische Wirkung, meine Herren! Das Opiat ist vom Teufel, denn es schafft Dumpfsinn, Beharrung, Untätig-keit, knechtischen Stillstand ... Es ist etwas Bedenkliches um die Musik, meine Herren. Ich bleibe dabei, daß sie zweideuti-gen Wesens ist. Ich gehe nicht zu weit, wenn ich sie für poli-tisch verdächtig erkläre.«

Er sprach noch weiter in dieser Art, und Hans Castorp hörte auch zu, vermochte aber so recht nicht zu folgen, erstens seiner Müdigkeit wegen, und dann auch, weil er abgelenkt war durch die geselligen Vorgänge unter der leichten Jugend dort auf den Stufen. Sah er recht oder wie war das eigentlich? Das Fräulein mit dem Tapirgesicht war beschäftigt, dem Jungen mit dem

156

157

Monokel einen Knopf an den Kniebund seiner Sporthose zu nähen! Und dabei ging ihr der Atem schwer und heiß vor Asthma, während er seinen salzlöffelähnlichen Fingernagel hü-stelnd zum Munde führte! Sie waren ja krank, alle beide, aber trotzdem zeugte es von sonderbaren Verkehrssitten unter den jungen Leuten hier oben. Die Musik spielte eine Polka . . .

Hippe

So hob der Sonntag sich ab. Sein Nachmittag war überdies ge-kennzeichnet durch Wagenfahrten, die von verschiedenen Gästegruppen unternommen wurden: mehrere Zweispänner schleppten sich nach dem Tee die Wegschleife herauf und hiel-ten vorm Hauptportal, um ihre Besteller aufzunehmen, Russen hauptsächlich, und zwar russische Damen.

»Russen fahren immer spazieren«, sagte Joachim zu Hans Castorp, - sie standen zusammen vor dem Portal und sahen zu ih-rer Unterhaltung den Abfahrten zu. »Nun fahren sie nach Cla-vadell oder nach dem See oder ins Flüelatal oder nach Klosters, das sind so die Ziele. Wir können auch mal fahren während deiner Anwesenheit, wenn du Lust hast. Aber ich glaube, vor-läufig hast du genug zu tun, um dich einzuleben, und brauchst keine Unternehmungen.«

Hans Castorp stimmte dem bei. Er hatte eine Zigarette im Munde und die Hände in den Hosentaschen. So sah er zu, wie die kleine, muntere, alte russische Dame mit ihrer mageren Großnichte und zwei anderen Damen in einem Wagen Platz nahm; es waren Marusja und Madame Chauchat. Diese hatte einen dünnen Staubmantel, mit einem Gurt im Rücken, angelegt, war jedoch ohne Hut. Sie setzte sich neben die Alte in den Fond des Wagens, während die jungen Mädchen die Rückplätze einnahmen. Alle vier waren lustig und regten unaufhörlich die Münder in ihrer weichen, gleichsam knochenlosen Sprache. Sie sprachen und lachten über die Wagendecke, in die sie sich unter Schwierigkeiten teilten, über das russische Konfekt, das die Großtante als Mundvorrat in einem mit Watte und Papierspit-zen gepolsterten Holzkistchen mitführte und schon jetzt präsen-tierte . . . Hans Castorp unterschied mit Anteil Frau Chauchats verschleierte Stimme. Wie immer, wenn ihm die nachlässige Frau vor Augen kam, bekräftigte sich ihm aufs neue jene Ähn-

lichkeit, nach der er eine Weile gesucht hatte und die ihm im Traume aufgegangen war . . . Marusjas Lachen aber, der Anblick ihrer runden, braunen Augen, die kindlich über das Tüchlein hinwegblickten, womit sie den Mund bedeckte, und ihrer ho-hen Brust, die innerlich gar nicht wenig krank sein sollte, erin-nerte ihn an etwas anderes, Erschütterndes, was er neulich gese-hen hatte, und so blickte er vorsichtig und ohne den Kopf zu bewegen zur Seite auf Joachim. Nein, gottlob, so fleckig im Gesicht sah Joachim nicht aus wie damals, und auch seine Lip-pen waren jetzt nicht so kläglich verzerrt. Aber er sah Marusja an - und zwar in einer Haltung, mit einem Augenausdruck, die unmöglich militärisch genannt werden konnten, vielmehr so trüb und selbstvergessen erschienen, daß man sie als ausgemacht zivilistisch ansprechen mußte. Dann raffte er sich übrigens zusammen und blickte rasch nach Hans Castorp, so daß dieser eben noch Zeit hatte, seine Augen von ihm fortzutun und sie ir-gendwohin in die Lüfte zu senden. Er fühlte sein Herz klopfen dabei, - unmotiviert und auf eigene Hand, wie es das hier nun einmal tat.

Der Rest des Sonntags bot nichts Außerordentliches, abgese-hen vielleicht von den Mahlzeiten, die, da sie reicher als ge-wöhnlich nicht wohl gestaltet werden konnten, wenigstens eine erhöhte Feinheit der Gerichte aufwiesen. (Zum Mittagessen gab . . ein Chaud-froid von Hühnern, mit Krebsen und halbierten Kitschen verziert; zum Gefrorenen Patisserie in Körbchen, die aus gesponnenem Zucker geflochten waren, und dann auch noch frische Ananas.) Abends, nachdem er sein Bier getrunken, fühlte Hans Castorp sich noch erschöpfter, frostiger und schwe-rer von Gliedern als die Tage vorher, sagte seinem Vetter schon gegen neun Uhr gute Nacht, zog eilig das Federbett bis über das Kinn und schlief ein wie erschlagen.

Allein schon der folgende Tag, der erste Montag also, den der Hospitant hier oben verlebte, brachte eine weitere regelmä-ßig wiederkehrende Abwandlung des Tageslaufes: nämlich einen jener Vorträge, die Dr. Krokowski vierzehntägig im Speise-saal vor dem gesamten volljährigen, der deutschen Sprache kun-digen und nicht moribunden Publikum des »Berghofes« hielt. Es handelte sich, wie Hans Castorp von seinem Vetter hörte, um eine Reihe zusammenhängender Kollegien, einen populärwis-senschaftlichen Kursus unter dem Generaltitel »Die Liebe als

158

159

krankheitbildende Macht«. Die belehrende Unterhaltung fand nach dem zweiten Frühstück statt, und es war, wie wiederum Joachim sagte, nicht zulässig, wurde zum mindesten höchst un-gern gesehen, daß man sich davon ausschlösse, - weshalb es denn auch als erstaunliche Frechheit galt, daß Settembrini, ob-gleich des Deutschen mächtiger als irgend jemand, die Vorträge nicht nur niemals besuchte, sondern sich auch in den abschät-zigsten Äußerungen darüber erging. Was Hans Castorp betraf, so war er vor allem aus Höflichkeit, dann aber auch aus unver-hohlener Neugier sofort entschlossen, sich einzufinden. Vorher jedoch tat er etwas ganz Verkehrtes und Fehlerhaftes: er ließ sich einfallen, auf eigene Hand einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, was ihm über alles Vermuten schlecht bekam.

»Jetzt paß auf!« waren seine ersten Worte, als Joachim mor-gens in sein Zimmer trat. »Ich sehe, daß es mit mir nicht so weitergeht. Ich habe die horizontale Lebensweise nun satt, - das Blut schläft einem ja dabei ein. Mit dir ist es selbstverständlich was anderes, du bist Patient, dich will ich durchaus nicht ver-führen. Aber ich will nun mal gleich nach dem Frühstück einen ordentlichen Spaziergang unternehmen, wenn du es mir nicht übelnimmst, so ein paar Stunden aufs Geratewohl in die Welt hinein. Ich stecke mir einen Bissen zum Frühstück in die Tasche, dann bin ich unabhängig. Wir wollen doch sehen, ob ich nicht ein anderer Kerl bin, wenn ich nach Hause komme.«