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»Schön!« sagte Joachim, da er sah, daß es dem anderen ernst war mit seinem Begehren und Vorsatz. »Aber übertreibe es nicht, das rate ich dir. Es ist hier anders als wie zu Hause. Und dann sei pünktlich zum Vortrag zurück!«

In Wirklichkeit waren es noch andere Gründe als nur der körperliche, die dem jungen Hans Castorp sein Vorhaben ein-gegeben hatten. Ihm war, als ob an seinem hitzigen Kopf, dem schlechten Geschmack, den er meistens im Munde hatte, und dem willkürlichen Klopfen seines Herzens viel weniger die Schwierigkeiten der Akklimatisation schuld seien als solche Dinge wie das Treiben des russischen Ehepaars nebenan, die Reden der kranken und dummen Frau Stöhr bei Tische, des Herrenreiters weicher Husten, den er täglich auf den Korrido-ren vernahm, die Äußerungen Herrn Albins, die Eindrücke, die er von den Verkehrssitten der leidenden Jugend empfangen hatte, der Gesichtsausdruck Joachims, wenn er Marusja betrach-

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tete, und dergleichen Wahrnehmungen mehr. Er dachte, es müsse gut sein, dem Bannkreise des »Berghofes« einmal zu ent-kommen, im Freien tief aufzuatmen und sich tüchtig zu rühren, um, wenn man abends müde war, doch wenigstens zu wissen, warum. Und so trennte er sich denn unternehmend von Joachim, als dieser nach dem Frühstück seinen dienstlich abgemes-senen Lustwandel nach der Bank an der Wasserrinne antrat, und marschierte stockschwenkend die Fahrstraße hinab seine eige-nen Wege.

Es war ein kühler, bedeckter Morgen - gegen halb neun Uhr. Wie er es sich vorgenommen, atmete Hans Castorp tief die rei-ne Frühluft, diese frische und leichte Atmosphäre, die mühelos einging und ohne Feuchtigkeitsduft, ohne Gehalt, ohne Erinne-gen war ... Er überschritt den Wasserlauf und das Schmal-spurgeleise, gelangte auf die unregelmäßig bebaute Straße, ver-ließ sie gleich wieder und schlug einen Wiesenpfad ein, der nur ein kurzes Stück zu ebener Erde lief und dann schräg hin und

ziemlich steil den rechtsseitigen Hang empor führte. Das Steigen heute Hans Castorp, seine Brust weitete sich, er schob mit der Stockkrücke den Hut aus der Stirn, und als er, aus einiger Höhe

zurückblickend, in der Ferne den Spiegel des Sees gewahrte, an dem er auf der Herreise vorübergekommen war, begann er zu singen.

Er sang die Stücke, über die er eben verfügte, allerlei volks-tümlich empfindsame Lieder, wie sie in Kommers- und Turn-liederbüchern stehen, unter anderem eines, worin die Zeilen vorkamen:

»Die Barden sollen Lieb' und Wein, Doch öfter Tugend preisen« -

sang sie anfangs leise und summend, dann laut und aus ganzer Kraft. Sein Bariton war spröde, aber heute fand er ihn schön, und das Singen begeisterte ihn mehr und mehr. Hatte er zu hoch eingesetzt, so verlegte er sich auf fistelnde Kopftöne, und auch diese erschienen ihm schön. Wenn sein Gedächtnis ihn im Stil he ließ, so half er sich damit, daß er der Melodie irgendwel-che sinnlose Silben und Worte unterlegte, die er nach Art der Kunstsänger formenden Mundes und mit prunkendem Gau-men-R in die Lüfte sandte, und ging schließlich dazu über, so-wohl was den Text als auch was die Töne betraf, nur noch zu

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phantasieren und seine Produktion sogar mit opernhaften Arm-bewegungen zu begleiten. Da es sehr anstrengend ist, zugleich zu steigen und zu singen, so wurde ihm bald der Atem knapp und fehlte ihm immer mehr. Aber aus Idealismus, um der Schönheit des Gesanges willen, bezwang er die Not und gab unter häufigen Seufzern sein Letztes her, bis er sich endlich in äußerster Kurzluftigkeit, blind, nur ein farbiges Flimmern vor Augen und mit fliegenden Pulsen unter einer dicken Kiefer niedersinken ließ, - nach so großer Erhebung plötzlich die Beu-te durchgreifender Verstimmung, eines Katzenjammers, der an Verzweiflung grenzte.

Als er mit leidlich wieder befestigten Nerven sich aufmachte, um seinen Spaziergang fortzusetzen, zitterte sein Genick sehr lebhaft, so daß er bei so jungen Jahren genau auf dieselbe Weise mit dem Kopfe wackelte, wie der alte Hans Lorenz Castorp es dereinst getan hatte. Er selbst fand sich durch die Erscheinung an seinen verstorbenen Großvater herzlich erinnert, und ohne sie als widerwärtig zu empfinden, gefiel er sich darin, die ehrwürdige Kinnstütze nachzuahmen, womit der Alte dem Kopfzittern zu steuern gesucht und die dem Knaben einst so zugesagt hatte.

Er stieg noch höher, in Serpentinen, Kuhglockengeläut zog ihn an, und er fand auch die Herde; sie graste in der Nähe einer Blockhütte, deren Dach mit Steinen beschwert war. Zwei bärti-ge Männer kamen ihm entgegen, mit Äxten auf den Schultern, und trennten sich, als sie nahe herangekommen. »Nun, so leb wohl und hab Dank!« sagte der eine zum andern mit tiefer, gaumiger Stimme, legte seine Axt auf die andere Schulter und begann ohne Weg und mit knackenden Tritten zwischen den Fichten zu Tal zu schreiten. Es hatte so sonderbar in der Einsam-keit geklungen, dieses »Leb wohl und hab Dank«, und träume-risch Hans Castorps vom Steigen und Singen benommenen Sinn berührt. Er sprach es leise nach, indem er sich bemühte, die gutturale und feierlich-unbeholfene Mundart des Gebirglers nachzuahmen, und stieg noch ein Stück über die Almhütte hin-aus, da es ihm darum zu tun war, die Baumgrenze zu erreichen; doch ließ er nach einem Blick auf die Uhr von diesem Vorha-ben ab.

Er folgte linkshin, in der Richtung gegen den Ort, einem Pfade, der eben lief und dann abwärts führte. Hochstämmiger Nadelwald nahm ihn auf, und indem er ihn durchwanderte, be-

gann er sogar wieder ein wenig zu singen, wenn auch mit Vor-sicht und obgleich seine Knie beim Abstiege noch befremdli-cher zitterten als vorher. Aber aus dem Gehölz hervortretend, stand er überrascht vor einer prächtigen Szenerie, die sich ihm öffnete, einer intim geschlossenen Landschaft von friedlich-großartiger Bildmäßigkeit.

In flachem, steinigem Bett kam ein Bergwasser die rechtssei-tige Höhe herab, ergoß sich schäumend über terrassenförmig gelagerte Blöcke und floß dann ruhiger gegen das Tal hin Wei--er, von einem Stege mit schlicht gezimmertem Geländer male-risch überbrückt. Der Grund war blau von den Glockenblüten einer staudenartigen Pflanze, die überall wucherte. Ernste Fichten, riesig und ebenmäßig von Wuchs, standen einzeln und in Gruppen auf dem Boden der Schlucht sowie die Höhen hinan, und eine davon, zur Seite des Wildbaches schräg im Gehänge wurzelnd, ragte schief und bizarr in das Bild hinein. Rauschende Abgeschiedenheit waltete über dem schönen, einsamen Ort. Jenseits des Baches bemerkte Hans Castorp eine Ruhebank.

Er überschritt den Steg und setzte sich, um sich vom Anblick des Wassersturzes, des treibenden Schaums unterhalten zu las-sen, dem idyllisch gesprächigen, einförmigen und doch inner-lich abwechslungsvollen Geräusch zu lauschen; denn rauschen-des Wasser liebte Hans Castorp ebensosehr wie Musik, ja viel-leicht noch mehr. Aber kaum hatte er sich's bequem gemacht, als ein Nasenbluten ihn so plötzlich befiel, daß er seinen Anzug nicht ganz vor Verunreinigung schützen konnte. Die Blutung war heftig, hartnäckig und machte ihm wohl eine halbe Stunde lang zu schaffen, indem sie ihn zwang, beständig zwischen Bach und Bank hin und her zu laufen, sein Schnupftuch zu spülen, Wasser aufzuschnauben und sich wieder flach auf den Bretter-sitz hinzustrecken, das feuchte Tuch auf der Nase. So blieb er liegen, als endlich das Blut versiegte - lag still, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, mit hochgezogenen Knien, die Augen geschlossen, die Ohren erfüllt vom Rauschen, nicht unwohl, eher besänftigt vom reichlichen Aderlaß und in einem Zustande sonderbar herabgesetzter Lebenstätigkeit; denn wenn er ausge-et hatte, fühlte er lange kein Bedürfnis, neue Luft einzuho-len, sondern ließ mit stillgestelltem Leibe ruhig sein Herz eine Reihe von Schlägen tun, bis er spät und träge wieder einen oberflächlichen Atemzug aufnahm.