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Da fand er sich auf einmal in jene frühe Lebenslage versetzt, die das Urbild eines nach neuesten Eindrücken gemodelten Traumes war, den er vor einigen Nächten geträumt . . . Aber so stark, so restlos, so bis zur Aufhebung des Raumes und der Zeit war er ins Dort und Damals entrückt, daß man hätte sagen kön-nen, ein lebloser Körper liege hier oben beim Gießbache auf der Bank, während der eigentliche Hans Castorp weit fort in früherer Zeit und Umgebung stünde, und zwar in einer bei aller Einfachheit gewagten und herzberauschenden Situation.

Er war dreizehn Jahre alt, Untertertianer, ein Junge in kurzen Hosen, und stand auf dem Schulhof im Gespräch mit einem an-deren, ungefähr gleichaltrigen Jungen aus einer anderen Klasse, - einem Gespräch, das Hans Castorp ziemlich willkürlich vom Zaune gebrochen hatte, und das ihn, obgleich es seines sachli-chen und knapp umschriebenen Gegenstandes wegen nur ganz kurz sein konnte, doch im höchsten Grade erfreute. Es war die Pause zwischen der vorletzten und letzten Stunde, einer Ge-schichts- und einer Zeichenstunde für Hans Castorps Klasse. Auf dem Hofe, der mit roten Klinkern gepflastert und von einer mit Schindeln gedeckten und mit zwei Eingangstoren ver-sehenen Mauer gegen die Straße abgetrennt war, gingen die Schüler in Reihen auf und nieder, standen in Gruppen, lehnten halb sitzend an den glasierten Mauervorsprüngen des Gebäudes. Es herrschte Stimmengewirr. Ein Lehrer im Schlapphut beauf-sichtigte das Treiben, indem er in eine Schinkensemmel biß.

Der Knabe, mit dem Hans Castorp sprach, hieß Hippe, mit Vornamen Pribislav. Als Merkwürdigkeit kam hinzu, daß das r dieses Vornamens wie sch auszusprechen war: es hieß »Pschibis-lav«; und dieser absonderliche Vorname stimmte nicht schlecht zu seinem Äußeren, das nicht ganz durchschnittsmäßig, ent-schieden etwas fremdartig war. Hippe, Sohn eines Historikers und Gymnasialprofessors, notorischer Musterschüler folglich und schon eine Klasse weiter als Hans Castorp, obgleich kaum älter als dieser, stammte aus Mecklenburg und war für seine Person offenbar das Produkt einer alten Rassenmischung, einer Versetzung germanischen Blutes mit wendisch-slawischem -oder auch umgekehrt. Zwar war er blond, - sein Haar war ganz kurz über dem Rundschädel geschoren. Aber seine Augen, blau-grau oder graublau von Farbe - es war eine etwas unbestimmte und mehrdeutige Farbe, die Farbe etwa eines fernen Gebirges -,

zeigten einen eigentümlichen, schmalen und genau genommen sogar etwas schiefen Schnitt, und gleich darunter saßen die Bak-kenknochen, vortretend und stark ausgeprägt, - eine Gesichts-bildung, die in seinem Falle durchaus nicht entstellend, sondern sogar recht ansprechend wirkte, die aber genügt hatte, ihm bei seinen Kameraden den Spitznamen »der Kirgise« einzutragen. Übrigens trug Hippe schon lange Hosen und dazu eine hochge-schlossene, blaue, im Rücken gezogene Joppe, auf deren Kragen einige Schuppen von seiner Kopfhaut zu liegen pflegten.

Nun war die Sache die, daß Hans Castorp schon von langer Hand her sein Augenmerk auf diesen Pribislav gerichtet, - aus dem ganzen ihm bekannten und unbekannten Gewimmel des Schulhofes ihn erlesen hatte, sich für ihn interessierte, ihm mit den Blicken folgte, soll man sagen: ihn bewunderte? auf jeden Fall ihn mit ausnehmendem Anteil betrachtete und sich schon auf dem Schulwege darauf freute, ihn im Verkehre mit seinen Klassengenossen zu beobachten, ihn sprechen und lachen zu se-ilen und von weitem seine Stimme zu unterscheiden, die ange-nehm belegt, verschleiert, etwas heiser war. Zugegeben, daß für diese Teilnahme kein recht zureichender Grund vorhanden war, wenn man nicht etwa den heidnischen Vornamen, das Muster-schülertum (das aber unmöglich ins Gewicht fallen konnte) oder endlich die Kirgisenaugen für einen solchen nehmen wollte, - Augen, die sich zuweilen, bei einem gewissen Seiten-Mick, der nicht zum Sehen diente, auf eine schmerzende Weise uns Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten, - so machte Hans Castorp sich doch wenig Sorge um die geistige Rechtfertigung seiner Empfindungen oder gar darum, wie sie etwa notfalls zu benennen gewesen wären. Denn von Freundschaft konnte nicht gut die Rede sein, da er Hippe ja gar nicht »kannte«. Aber er-stens lag nicht die geringste Nötigung zur Namengebung vor, da kein Gedanke daran war, daß der Gegenstand je zur Sprache gebracht werden könnte, - dazu eignete er sich nicht und ver-langte auch nicht danach. Und zweitens bedeutet ein Name ja, wenn nicht Kritik, so doch Bestimmung, das heißt Unterbrin-gung im Bekannten und Gewohnten, während Hans Castorp doch von der unbewußten Überzeugung durchdrungen war,

daß ein inneres Gut wie dieses vor solcher Bestimmung und Unterbringung ein für allemal geschützt sein sollte.

Aber gut oder schlecht begründet, jedenfalls waren diese

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dem Namen und der Mitteilung so fernen Empfindungen von solcher Lebenskraft, daß Hans Castorp sich schon fast seit einem Jahr - ungefähr seit einem Jahr, denn genau waren ihre Anfän-ge nicht aufzufinden - im stillen damit trug, 'was zum minde-sten für die Treue und Beständigkeit seines Charakters sprach, wenn man erwägt, welche riesige Zeitmasse ein Jahr in diesem Lebensalter bedeutet. Leider wohnt den Bezeichnungen von Charaktereigenschaften regelmäßig ein moralisches Urteil inne, sei es im lobenden oder tadelnden Sinn, obgleich sie alle ihre zwei Seiten haben. Hans Castorps »Treue«, auf die er sich übri-gens weiter nichts zugute tat, bestand, ohne Wertung gespro-chen, in einer gewissen Schwerfälligkeit, Langsamkeit und Be-harrlichkeit seines Gemütes, einer erhaltenden Grundstimmung, die ihm Zustände und Lebensverhältnisse der Anhänglichkeit und des Fortbestandes desto würdiger erscheinen ließ, je länger sie bestanden. Auch war er geneigt, an die unendliche Dauer des Zustandes, der Verfassung zu glauben, worin er sich gerade be-fand, schätzte sie eben darum und war nicht auf Veränderung erpicht. So hatte er sich an sein stilles und fernes Verhältnis zu Pribislav Hippe im Herzen gewöhnt und hielt es im Grunde für eine bleibende Einrichtung seines Lebens. Er liebte die Gemüts-bewegungen, die es mit sich brachte, die Spannung, ob jener ihm heute begegnen, dicht an ihm vorübergehen, vielleicht ihn anblicken werde, die lautlosen, zarten Erfüllungen, mit denen sein Geheimnis ihn beschenkte, und sogar die Enttäuschungen, die zur Sache gehörten und deren größte war, wenn Pribislav »fehlte«: dann war der Schulhof verödet, der Tag aller Würze bar, aber die hinhaltende Hoffnung blieb.

Das dauerte ein Jahr, bis es auf jenen abenteuerlichen Höhe-punkt gelangte, dann dauerte es noch ein Jahr, dank der bewah-renden Treue Hans Castorps, und dann hörte es auf - und zwar ohne daß er mehr von der Lockerung und Auflösung der Bande merkte, die ihn an Pribislav Hippe knüpften, als er von ihrer Entstehung gemerkt hatte. Auch verließ Pribislav, infolge der Versetzung seines Vaters, Schule und Stadt; aber das beachtete Hans Castorp kaum noch; er hatte ihn schon vorher vergessen. Man kann sagen, daß die Gestalt des »Kirgisen« unmerklich aus Nebeln in sein Leben getreten war, langsam immer mehr Deut-lichkeit und Greifbarkeit gewonnen hatte, bis zu jenem Augen-blick der größten Nähe und Körperlichkeit, auf dem Hofe, eine

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Weile so im Vordergrunde gestanden hatte und dann allmählich wieder zurückgetreten und ohne Abschiedsweh in den Nebeln entschwunden war.

Jener Augenblick aber, die gewagte und abenteuerliche Situation, in die Hans Castorp sich nun wieder versetzt fand, das Gespräch, ein wirkliches Gespräch mit Pribislav Hippe, kam fol-gendermaßen zustande. Die Zeichenstunde war an der Reihe, und Hans Castorp bemerkte, daß er seinen Bleistift nicht bei sich hatte. Jeder seiner Klassengenossen brauchte den seinen; liier er hatte ja unter den Angehörigen anderer Klassen diesen und jenen Bekannten, den er um einen Stift hätte angehen kön-nen. Am bekanntesten jedoch, fand er, war ihm Pribislav, am nächsten stand ihm dieser, mit dem er im stillen schon so viel zu tun gehabt hatte; und mit einem freudigen Aufschwunge seines Wesens beschloß er, die Gelegenheit - eine Gelegenheit nannte er es - zu benutzen und Pribislav um einen Bleistift zu bitten. Daß das ein ziemlich sonderbarer Streich sein werde, da er Hippe in Wirklichkeit ja nicht kannte, das entging ihm, oder er kümmerte sich doch nicht darum, verblendet von merkwür-diger Rücksichtslosigkeit. Und so stand er denn nun im Ge-wühle des Klinkerhofes wirklich vor Pribislav Hippe und sagte zu ihm: