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Zweifel und Erwägungen

Am Dienstag war unser Held nun also seit einer Woche bei de-nen hier oben, und so fand er denn, als er vom Morgenspazier-gang zurückkehrte, in seinem Zimmer die Rechnung vor, seine erste Wochenrechnung, ein reinlich ausgeführtes kaufmänni-sches Dokument, in einen grünlichen Umschlag verschlossen, mit illustriertem Kopf (das Berghofgebäude war bestechend ab-gebildet dort oben) und links seitwärts geschmückt mit einem. in schmaler Kolonne angeordneten Auszuge aus dem Prospekt, worin auch der »psychischen Behandlung nach modernsten Prinzipien« in Sperrdruck Erwähnung geschah. Die kalligraphi-schen Aufstellungen selbst betrugen ziemlich genau 180 Fran-ken, und zwar entfielen auf die Verpflegung nebst ärztlicher Be---ndlung 12 und auf das Zimmer 8 Franken für den Tag, ferner auf den Posten »Eintrittsgeld« 20 Franken und auf die Desin-fektion des Zimmers 10 Franken, während kleinere Sportein für Wüsche, Bier und den zum ersten Abendessen genossenen Wein die Summe abrundeten.

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Hans Castorp fand nichts zu beanstanden, als er mit Joachim die Addition überprüfte. »Ja, von der ärztlichen Behandlung mache ich keinen Gebrauch«, sagte er, »aber das ist meine Sa-che; sie ist inbegriffen in den Pensionspreis, und ich kann nicht verlangen, daß sie in Abzug gebracht wird, wie sollte das auch geschehen? Bei der Desinfektion machen sie einen Schnitt, denn für 10 Franken H2CO können sie unmöglich verpulvert haben, um die Amerikanerin auszuräuchern. Aber im ganzen muß ich sagen, ich finde es eher billig als teuer, in Anbetracht dessen, was geboten wird.« Und so gingen sie denn vor dem zweiten Frühstück auf die »Verwaltung«, um die Schuld zu be-reinigen.

Die »Verwaltung« befand sich zu ebener Erde: wenn man, jenseits der Halle, an der Garderobe und den Küchen- und An-richteräumen vorüber den Flurgang verfolgte, konnte man die Tür nicht verfehlen, zumal sie durch ein Porzellanschild ausge-zeichnet war. Hans Castorp gewann dort mit Interesse einen ge-wissen Einblick in das kaufmännische Zentrum eines Anstalts-betriebes. Es war ein richtiges kleines Kontor: ein Schreib-maschinenfräulein war tätig, und drei männliche Angestellte sa-ßen über Pulte gebückt, während im anstoßenden Raum ein Herr von dem höheren Ansehen eines Chefs oder Direktors an einem frei stehenden Zylinderbureau arbeitete und nur über sein Augenglas hinweg einen kalten und sachlich musternden Blick auf die Klienten warf. Während man sie am Schalter ab-fertigte, einen Schein wechselte, kassierte, quittierte, bewahrten sie eine ernst-bescheidene, schweigsame, ja botmäßige Haltung, wie junge Deutsche, die die Achtung vor der Behörde, der Amtsstube auf jedes Schreib- und Dienstlokal übertragen; aber draußen, auf dem Weg zum Frühstück und später im Laufe des Tages plauderten sie einiges über die Verfassung des Berghof-Instituts, wobei Joachim als der Eingesessene und Kundige die Fragen seines Vetters beantwortete.

Hofrat Behrens war keineswegs Inhaber und Besitzer der An-stalt, - obgleich man wohl diesen Eindruck gewinnen konnte. Über und hinter ihm standen unsichtbare Mächte, die sich eben nur in Gestalt des Bureaus bis zu einem gewissen Grade mani-festierten: ein Aufsichtsrat, eine Aktiengesellschaft, der anzuge-hören nicht übel sein mochte, da sie nach Joachims glaubwürdi-ger Versicherung trotz hoher Ärztegehälter und liberalster Wirt-

schaftsprinzipien alljährlich eine saftige Dividende unter ihre Mitglieder verteilen konnte. Der Hofrat also war kein selbstän-diger Mann, er war nichts als ein Agent, ein Funktionär, ein Verwandter höherer Gewalten, der erste und oberste freilich, die Seele des Ganzen, von bestimmendem Einfluß auf die ge-

samte Organisation, die Intendantur nicht ausgeschlossen, obgleich er als dirigierender Arzt über jede Beschäftigung mit dem kaufmännischen Teil des Betriebes natürlich erhaben war. Aus dem Nordwesten Deutschlands gebürtig, war er, wie man wuß-te, wider Absicht und Lebensplan vor Jahren in diese Stellung gelangt: heraufgeführt durch seine Frau, deren Reste schon längst der Friedhof von »Dorf« umfing, - der malerische Fried-hof von Dorf Davos dort oben am rechtsseitigen Hange, weiter

zurück gegen den Eingang des Tales. Sie war eine sehr liebliche, wenn auch überäugige und asthenische Erscheinung gewesen, den Photographien nach zu urteilen, die überall in des Hofrats Dienstwohnung standen, sowie auch den Ölbildnissen zufolge, die, von seiner eigenen Liebhaberhand stammend, dort an den Wänden hingen. Nachdem sie ihm zwei Kinder geschenkt, einen Sohn und eine Tochter, war ihr leichter, von Hitze ergriffe-ner Körper in diese Gegenden heraufgezogen worden, und in wenigen Monaten hatte seine Aus- und Aufzehrung sich voll-endet. Man sagte, Behrens, der sie vergöttert habe, sei durch den Schlag so schwer getroffen worden, daß er vorübergehend in

Tiefsinn und Wunderlichkeit verfallen sei und sich auf der Stra-ße durch Kichern, Gestenspiel und Selbstgespräche auffällig ge-

t habe. Er war dann nicht mehr in seinen ursprünglichen

Lebenskreis zurückgekehrt, sondern an Ort und Stelle geblie-ben: gewiß auch darum, weil er sich von dem Grabe nicht tren-nen mochte; den Ausschlag aber hatte wohl der weniger senti-mentale Grund gegeben, daß er selbst etwas abbekommen hatte und seiner eigenen wissenschaftlichen Einsicht nach einfach hierher gehörte. So hatte er sich eingebürgert als einer der Ärzte, die Leidensgenossen derjenigen sind, deren Aufenthalt sie überwachen; die nicht, von der Krankheit unabhängig, sie aus dem freien Stande persönlicher Intaktheit bekämpfen, sondern selber ihr Zeichen tragen, - ein eigentümlicher, aber durchaus nicht vereinzelter Fall, der ohne Zweifel seine Vorzüge wie sein Bedenkliches hat. Kameradschaft des Arztes mit dem Patienten ist gewiß zu begrüßen, und es läßt sich hören, daß nur der Lei-

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dende des Leidenden Führer und Heiland zu sein vermag. Aber ist rechte geistige Herrschaft über eine Macht denn möglich bei dem, der selber zu ihren Sklaven zählt? Kann befreien, wer selbst unterworfen ist? Der kranke Arzt bleibt Paradoxon für das einfache Gefühl, eine problematische Erscheinung. Wird nicht vielleicht sein geistiges Wissen um die Krankheit durch das erfahrungsmäßige nicht so sehr bereichert und sittlich ge-stärkt als getrübt und verwirrt? Er blickt der Krankheit nicht in klarer Gegnerschaft ins Auge, er ist befangen, ist nicht eindeutig als Partei; und mit aller gebotenen Vorsicht muß man fragen, ob ein der Krankheitswelt Zugehöriger an der Heilung oder auch nur Bewahrung anderer eigentlich in dem Sinne interessiert sein kann wie ein Mann der Gesundheit . . .

Von diesen Zweifeln und Erwägungen sprach Hans Castorp auf seine Weise einiges aus, als er mit Joachim vom »Berghof« und seinem ärztlichen Leiter schwatzte, aber Joachim bemerkte dagegen, man wisse ja gar nicht, ob Hofrat Behrens heute noch selber Patient sei, - wahrscheinlich sei er schon längst genesen. Daß er hier zu praktizieren begonnen hatte, war lange her, - er hatte es eine Weile auf eigene Hand getrieben und sich als fein-höriger Auskultator wie auch als sicherer Pneumotom rasch ei-nen Namen gemacht. Dann hatte der »Berghof« sich seiner Person versichert, das Institut, mit dem er nun bald seit einem Jahrzehnt so eng verwachsen war . . . Dort hinten, am Ende des nordwestlichen Flügels, lag seine Wohnung (Dr. Krokowski hauste nicht weit davon), und jene altadelige Dame, die Schwe-ster Oberin, von der Settembrini so höhnisch gesprochen und die Hans Castorp bisher nur flüchtig gesehen hatte, stand dem kleinen Witwerhaushalte vor. Im übrigen war der Hofrat allein, denn sein Sohn studierte an reichsdeutschen Universitäten, und seine Tochter war schon vermählt: nämlich an einen Advokaten im französischen Teile der Schweiz. Der junge Behrens kam in den Ferien zuweilen zu Besuch, was sich während Joachims Aufenthalt schon einmal ereignet hatte, und er sagte, die Damen der Anstalt seien dann sehr bewegt, die Temperaturen stiegen, Eifersüchteleien führten zu Zank und Streit auf den Liegehallen, und erhöhter Zudrang herrsche zu Dr. Krokowskis besonderer Sprechstunde . . .