Dem Assistenten war für seine Privatordinationen ein eige-nes Zimmer eingeräumt, das, wie der große Untersuchungs-
raum, das Laboratorium, der Operationssaal und das Durch-strahlungsatelier, in dem gut belichteten Kellergeschoß des An-staltsgebäudes gelegen war. Wir sprechen von einem Kellergeschoß, weil die steinerne Treppe, die vom Erdgeschoß dorthin führte, in der Tat die Vorstellung erweckte, daß man sich in einen Keller begebe, - was aber beinahe ganz auf Täuschung be-beruhte. Denn erstens war das Erdgeschoß ziemlich hoch gelegen, das Berghofgebäude aber zweitens, im ganzen, auf abschüssigem Grunde, am Berge errichtet, und jene »Keller«-Räumlichkeiten schauten nach vorn, gegen den Garten und das Taclass="underline" Umstände, durch die Wirkung und Sinn der Treppe gewissermaßen durch-kreuzt und aufgehoben wurden. Denn man glaubte wohl über ihne Stufen von ebener Erde hinabzusteigen, befand sich aber drunten immer noch und wiederum zu ebener Erde oder doch nur ein paar Schuh darunter, - ein belustigender Eindruck für Hans Castorp, als er seinen Vetter, der sich vom Bademeister wiegen lassen sollte, nachmittags einmal in diese Sphäre »hin-unter«-begleitete. Es herrschte klinische Helligkeit und Sauber-keit dort; alles war weiß in weiß gehalten, und in weißem Lack schimmerten die Türen, auch die zu Dr. Krokowskis Empfangs-zimmer, an der die Visitenkarte des Gelehrten mit einem Reiß-nagel befestigt war und zu der noch eigens zwei Stufen von der Höhe des Flurganges hinabführten, so daß der dahinter liegende Raum einen gelaßartigen Charakter erhielt. Sie lag rechts von der Treppe, diese Tür, am Ende des Ganges, und Hans Castorp hatte ein besonderes Auge auf sie, während er, auf Joachim wartend, den Korridor auf und nieder ging. Er sah auch jeman-den herauskommen, eine Dame, die kürzlich eingetroffen war und deren Namen er noch nicht kannte, eine Kleine, Zierliche mit Stirnlöckchen und goldenen Ohrringen. Sie bückte sich tief, die Stufen ersteigend, und raffte ihren Rock, indes sie mit der anderen kleinen, beringten Hand ihr Tüchlein an den Mund preßte und darüberhin aus ihrer gebückten Haltung mit großen, blassen, verstörten Augen ins Leere blickte. So eilte sie mit en-gen Trittchen, bei denen ihr Unterrock rauschte, zur Treppe, blieb plötzlich stehen, als besänne sie sich auf etwas, setzte sich trippelnd wieder in Lauf und verschwand im Stiegenhause, immer gebückt und ohne das Tüchlein von den Lippen zu neh-men.
Hinter ihr, als die Tür sich geöffnet hatte, war es viel dunkler
merkte . . . Jetzt sagt sie ihren Leuten guten Tag . . . Sie sollten doch einmal hinsehen, es ist so erquickend, sie zu beobachten. Wenn sie so lächelt und spricht wie jetzt, bekommt sie ein Grübchen in die eine Wange, aber nicht immer, nur wenn sie will. Ja, das ist ein Goldkind von einer Frau, ein verzogenes Ge-schöpf, daher ist sie so lässig. Solche Menschen muß man lie-ben, ob man will oder nicht, denn wenn sie einen ärgern durch ihre Lässigkeit, so ist auch der Ärger nur ein Anreiz mehr, ihnen zugetan zu sein, es ist so beglückend, sich zu ärgern und den-noch lieben zu müssen . . .«
So raunte die Lehrerin hinter der Hand und ungehört von den anderen, während die flaumige Röte auf ihren Altjungfern-wangen an ihre übernormale Körpertemperatur erinnerte; und ihre wollüstigen Redereien gingen dem armen Hans Castorp in Mark und Blut. Eine gewisse Unselbständigkeit schuf ihm das Bedürfnis, von dritter Seite bestätigt zu erhalten, daß Madame Chauchat eine entzückende Frau sei, und außerdem wünschte der junge Mann, sich von außen zur Hingabe an Empfindungen ermutigen zu lassen, denen seine Vernunft und sein Gewissen störende Widerstände entgegensetzten.
Übrigens erwiesen sich diese Unterhaltungen in sachlicher Beziehung nur wenig fruchtbar, denn Fräulein Engelhart wußte beim besten Willen nichts Näheres über Frau Chauchat auszusa-gen, nicht mehr als jedermann im Sanatorium; sie kannte sie nicht, konnte sich nicht einmal einer Bekanntschaft rühmen, die sie mit ihr gemeinsam gehabt hätte, und das einzige, womit sie sich vor Hans Castorp ein Ansehen geben konnte, war, daß sie in Königsberg - also nicht gar so sehr weit von der russischen Grenze — zu Hause war und einige Brocken Russisch kannte, — dürftige Eigenschaften, in denen Hans Castorp aber etwas wie weitläufige persönliche Beziehungen zu Frau Chauchat zu sehen bereit war.
»Sie trägt keinen Ring«, sagte er, »keinen Ehering, wie ich se-he. Wie ist denn das? Sie ist doch eine verheiratete Frau, haben Sie mir gesagt?«
Die Lehrerin geriet in Verlegenheit, als sei sie in die Enge getrieben und müsse sich herausreden, so sehr verantwortlich fühlte sie sich für Frau Chauchat Hans Castorp gegenüber.
»Das dürfen Sie nicht so genau nehmen«, sagte sie. »Zuver-lässig ist sie verheiratet. Daran ist kein Zweifel möglich. Daß sie
sich Madame nennt, geschieht nicht nur der größeren Ansehn-lichkeit wegen, wie ausländische Fräulein es machen, wenn sie ein wenig reif sind, sondern wir alle wissen es, daß sie wirklich einen Mann hat irgendwo in Rußland, das ist im ganzen Orte bekannt. Von Hause aus hat sie einen anderen Namen, einen russischen und keinen französischen, einen auf -anow oder ukow, ich habe ihn schon gewußt und nur wieder vergessen; wenn Sie wollen, erkundige ich mich danach; es gibt sicher mehrere Personen hier, die den Namen kennen. Einen Ring? Nein, sie trägt keinen, es ist mir auch schon aufgefallen. Lieber Himmel, vielleicht kleidet er sie nicht, vielleicht macht er ihr eine breite Hand. Oder sie findet es spießbürgerlich, einen Ehering zu tragen, so einen glatten Reif... es fehlt nur der Schlüs-selkorb . . . nein, dazu ist sie gewiß zu großzügig ... Ich kenne das, die russischen Frauen haben alle so etwas Freies und Groß-zügiges in ihrem Wesen. Außerdem hat so ein Ring etwas gera-dezu Abweisendes und Ernüchterndes, er ist doch ein Symbol der Hörigkeit, möchte ich sagen, er gibt einer Frau direkt etwas Nonnenhaftes, das reine Blümchen Rührmichnichtan macht er JUS ihr. Ich wundere mich gar nicht, wenn das nicht nach Frau Chauchats Sinne ist. . . Eine so reizende Frau, in der Blüte der Jahre . . . Wahrscheinlich hat sie weder Grund noch Lust, jeden Herrn, dem sie die Hand gibt, gleich ihre eheliche Gebunden-heit fühlen zu lassen . . .«
Großer Gott, wie die Lehrerin sich ins Zeug legte! Hans Castorp sah ihr ganz erschreckt ins Gesicht, aber sie trotzte seinem Blick mit einer Art von wilder Verlegenheit. Dann schwiegen beide eine Weile, um sich zu erholen. Hans Castorp aß und un-terdrückte das Zittern seines Kopfes. Endlich sagte er:
»Und der Mann? Er kümmert sich gar nicht um sie? Er be-sucht sie niemals hier oben? Was ist er denn eigentlich?«
»Beamter. Russischer Administrationsbeamter, in einem ganz entlegenen Gouvernement, Daghestan, wissen Sie, das liegt ganz östlich über den Kaukasus hinaus, dahin ist er komman-diert. Nein, ich sagte Ihnen ja, daß noch nie ihn jemand hier oben gesehen hat. Und dabei ist sie schon wieder im dritten Monat hier.«
»Sie ist also nicht zum erstenmal hier?«
»() nein, schon das drittemal. Und zwischendurch ist sie wieder wo anders, an ähnlichen Orten. - Umgekehrt, sie besucht
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ihn zuweilen, nicht oft, einmal im Jahre auf einige Zeit. Sie le-ben getrennt, kann man sagen, und sie besucht ihn zuweilen.«