Wahrscheinlich hatte der Duft des Essens in Ellis Korb das Tierchen angelockt. Der Scheuch glaubte, Elli drohe große Gefahr. Mit angehaltenem Atem stand er da und ließ den Feind (es war bloß ein junger Dachs, was der Strohmann freilich nicht wissen konnte) bis an die Tür herankommen. Als das Tierchen seine Nase neugierig hereinsteckte und den lockenden Duft einsog, versetzte der Scheuch ihm mit der Rute, die er in der Hand hielt, einen saftigen Hieb über den fetten Rücken.
Der Dachs heulte auf und floh ins Dickicht zurück, aus dem noch lange sein Winseln zu hören war…
Der Rest der Nacht verlief ruhig. Die Tiere des Waldes hatten begriffen, daß die Hütte einen verläßlichen Wächter hatte. Der Scheuch, der niemals müde wurde und keinen Schlaf brauchte, saß an der Schwelle, starrte in die Finsternis und wartete ruhig den Morgen ab.
Die Erlösung des eisernen Holzfällers
Als Elli erwachte, saß der Scheuch vor der Schwelle, während Totoschka dem Eichhörnchen im Walde nachjagte. «Wir müssen uns nach Wasser umsehen», sagte das Mädchen.
«Wozu brauchst du es?»
«Um mich zu waschen und zu trinken. Trocknes Brot kann man doch nicht essen.»
«Wie ich sehe, habt ihr Geschöpfe aus Fleisch und Knochen es nicht am besten», meinte der Scheuch nachdenklich. «Ihr müßt unbedingt schlafen, essen und trinken. Freilich habt ihr ein Gehirn, und dafür kann man vieles in Kauf nehmen.»
Sie fanden einen Bach, an dem Elli und Totoschka ihr Frühstück verzehrten. Im Korb blieb noch etwas Brot übrig. Elli wollte zum Backsteinweg zurück, als sie plötzlich ein Stöhnen aus dem Wald vernahm.
«Was mag das sein?'. fragte sie ängstlich.
«Keine Ahnung», erwiderte der Scheuch. «Laßt uns nachschauen.»
Wieder hörten sie das Stöhnen. Die Gefährten bahnten sich einen Weg durch das Dickicht und erblickten eine Gestalt zwischen den Bäumen. Elli lief auf sie zu und blieb wie angewurzelt stehen.
An einem angeschlagenen Baum stand mit erhobener Axt ein Mensch, der ganz aus Eisen war. Kopf, Arme und Beine waren mit Scharnieren an den Körper befestigt, und anstelle eines Hutes hatte er einen bronzenen Trichter auf. Die Krawatte an seinem Hals war gleichfalls aus Eisen. Der Mann stand unbeweglich da, die Augen weit geöffnet.
Totoschka stürzte bellend auf ihn zu und versuchte, ihn am Bein zu schnappen, sprang aber winselnd zurück, weil er sich beinahe die Zähne ausgebrochen hätte.
«Eine Gemeinheit, wau-wau-wau», klagte er, «einem anständigen Hund ein eisernes Bein hinzuhalten!»
«Das ist wohl eine Waldscheuche», meinte der Scheuch, «obwohl ich nicht verstehe, wen sie hier bewacht.»
«Hast du gestöhnt?» fragte Elli.
«Ja», gab der eiserne Mann zur Antwort. «Schon ein Jahr steh ich hier, und niemand kommt mir zu Hilfe…»
«Wie kann man dir helfen?» fragte Elli teilnahmsvoll.
«Meine Gelenke sind eingerostet, und ich kann mich nicht bewegen. Wenn man mich einschmieren würde, wäre ich wie neu. Die Ölkanne steht auf einem Brett in meiner Hütte.»
Elli und Totoschka liefen zur Hütte, während der Scheuch den eisernen Holzfäller neugierig von allen Seiten betrachtete.
«Sag, lieber Freund», fragte er, «ist ein Jahr viel oder wenig?»
Oh, ein Jahr ist sehr viel! Ganze dreihundertfünfundsechsig Tage!»
«Dreihundertfünfundsechzig…», wiederholte der Scheuch. «Sind das mehr als drei?»
«Bist du aber dumm!» sagte der Holzfäller. «Du kannst wohl nicht zählen?»
«Da irrst du!» entgegnete der Scheuch stolz, «ich kann sehr gut zählen.» Und er begann zu zählen, wobei er die Finger umbog: «Mein Herr hat mich gemacht — das ist eins! Ich hab mich mit der Krähe gezankt — das ist zwei! Elli hat mich vom Pfahl heruntergeholt — das ist drei! Und sonst ist mit mir nichts geschehen, also brauche ich auch nicht weiter zu zählen!»
Der Eiserne Holzfäller wußte vor Staunen nichts zu erwidern. In diesem Augenblick kam Elli mit der Ölkanne.
«Wo soll ich dich einschmieren?»
«Zuerst den Hals», antwortete der eiserne Mann.
Elli schmierte ihm den Hals, doch dieser war völlig eingerostet, und der Scheuch mußte den Kopf des Holzfällers lange hin und her drehen, bis der Hals zu knarren aufhörte.
«Und jetzt noch die Arme bitte!»
Elli schmierte seine Armgelenke, und der Scheuch hob und senkte behutsam die Arme des Holzfällers, bis sie tadellos funktionierten. Als dies geschehen war, holte der eiserne Mann tief Atem und warf die Axt von sich.
«Oh, wie ich mich wohl fühle!» rief er. «Ich hatte die Axt erhoben, ehe ich einrostete, und jetzt bin ich schrecklich froh, sie wieder wegzuwerfen. Und nun gib mir die Ölkanne, damit ich die Beine einschmiere. Dann wird alles in Ordnung sein.»
Als er die Beine eingeschmiert hatte und sie wieder bewegen konnte, dankte er Elli viele Male, denn er war sehr höflich.
«Ich hätte hier so lange gestanden, bis ich zu Staub zerfallen wäre. Ihr habt mir das Leben gerettet. Wer seid ihr?»
«Ich heiße Elli, und das sind meine Freunde.»
«Toto!»
«Scheuch ist mein Name. Ich bin mit Stroh ausgestopft!»
«Das kann man an deinem Gerede leicht erkennen», stellte der Eiserne Holzfäller fest. «Wie seid ihr hergekommen?»
«Wir ziehen in die Smaragdenstadt, wo der große Zauberer Goodwin lebt, und haben in deiner Hütte übernachtet.»
«Was führt euch zu Goodwin?»
«Er soll mir helfen, nach Kansas heimzukehren, zu Vater und Mutter», erwiderte Elli.
«Und ich will ihn um ein bißchen Gehirn für meinen Strohkopf bitten», sagte der Scheuch.
«Ich gehe einfach hin, weil ich Elli lieb hab und weil es meine Pflicht ist, sie vor Feinden zu schützen!» sagte Totoschka.
Der Eiserne Holzfäller dachte angestrengt nach.
«Was meint ihr, könnte mir Goodwin ein Herz geben?»
«Ich glaube, er kann's», sagte Elli. «Das wird ihm nicht schwerer fallen, als dem Scheuch ein Gehirn zu geben.»
«Wenn ihr mich mitnehmt, so will ich auch in die Smaragdenstadt ziehen und den Großen Goodwin um ein Herz bitten. Das ist mein sehnlichster Wunsch.»
«Oh, liebe Freunde», rief Elli aus, «wie froh ich bin! Jetzt seid ihr zwei, die sehnliche Wünsche haben!»
«Komm mit uns», sagte auch der Scheuch.
Der Eiserne Holzfäller bat Elli, seine Ölkanne zu füllen und in den Korb zu legen.
«Wenn's regnet, könnte ich wieder einrosten», sagte er, «und ohne die Ölkanne ergeht's mir schlimm…»
Er nahm die Axt, und sie schritten nun zu viert durch den Wald auf den gelben Backsteinweg zu.
Es war für Elli und den Scheuch ein großes Glück, einen so starken und geschickten Gefährten wie den eisernen Mann gefunden zu haben.
Als der Holzfäller sah, wie sich der Scheuch im Gehen auf seinen knorrigen Knüppel stützte, da schnitt er einen geraden Ast von einem Baum ab und machte daraus im Handumdrehen einen Spazierstock für den Strohmann.
Bald kamen die Wanderer zu einer Stelle, wo undurchdringliches Gestrüpp ihnen den Weg versperrte. Da machte sich der Eiserne Holzfäller mit seiner riesigen Axt ans Werk, und augenblicklich lag der Weg wieder frei vor ihnen.
Elli war so sehr in Gedanken vertieft, daß sie nicht merkte, wie der Scheuch in einen Graben stürzte. Er mußte seine Gefährten zu Hilfe rufen.
«Warum bist du dem Graben nicht ausgewichen?» fragte der Eiserne Holzfäller.
«Das weiß ich nicht», antwortete der Scheuch offenherzig. «Siehst du, mein Kopf ist voller Stroh, und ich gehe zu Goodwin, um mir bei ihm ein bißchen Gehirn auszubitten.»
«Soso», sagte der Holzfäller. «Ich glaube aber, ein Gehirn ist noch lange nicht das beste auf der Welt.»