«Wieso?» staunte der Scheuch. «Wie meinst du das?»
«Früher hatte auch ich ein Gehirn», erklärte der Eiserne Holzfäller, «wenn ich aber zwischen einem Gehirn und einem Herzen zu wählen hab, so ziehe ich das Herz vor.»
«Warum?» fragte der Scheuch.
«Hört euch meine Geschichte an, dann werdet ihr alles verstehen.»
Während sie weitergingen, erzählte der eiserne Mann:
«Ich bin Holzfäller. Als ich zu einem Jüngling herangewachsen war, entschloß ich mich zu heiraten. Ich hatte ein schönes Mädchen liebgewonnen und hielt um ihre Hand an. Damals war ich noch aus Fleisch und Knochen wie alle anderen Menschen. Meine Liebste lebte bei einer bösen Tante, die sie nicht fortlassen wollte, weil das Mädchen für sie arbeitete. Die Tante ging zur Zauberin Gingema und versprach ihr einen Korb voll fetter Blutegel, falls sie die Hochzeit verhindern würde.»
«Die böse Gingema ist jetzt tot!» fiel ihm der Scheuch ins Wort.
«Wer hat sie getötet?»
«Elli. Sie kam mit ihrem Tötenden Häuschen angeflogen und ging damit auf die Zauberin nieder, krak! krak!»
«Schade, daß das nicht früher geschah», seufzte der eiserne Mann und fuhr fort: «Die Gingema hat meine Axt verhext. Sie prallte von einem Baum ab und trennte mir mein linkes Bein vom Rumpf. Ich war sehr traurig, denn ohne Bein konnte ich doch keine Bäume fällen, und ging zu einem Schmied, der mir ein erstklassiges eisernes Bein machte. Gingema aber verhexte wieder meine Axt, und diese hieb mir das rechte Bein ab. Ich ging von neuem zum Schmied. Das Mädchen liebte mich und war bereit, mich auch als Krüppel zu heiraten. 'Wir werden an Stiefeln und Beinkleidern viel Geld sparen', sagte sie. Die böse Hexe gab uns aber keine Ruhe. Sie wollte unbedingt ihren Korb mit den Blutegeln bekommen. Die Axt hieb mir die Arme ab, und der Schmied fertigte mir neue aus Eisen an. Dann hieb mir die Axt den Kopf ab, und ich glaubte schon, es sei um mich geschehen. Als der Schmied davon erfuhr, fertigte er für mich einen prächtigen eisernen Kopf an. Ich arbeitete weiter, und wir liebten uns, das Mädchen und ich, wie früher…»
«Man hat dich also stückweise zusammengefügt», stellte der Scheuch tiefsinnig fest. «Mich hat mein Herr in einem Zug gemacht…»
«Das Schlimmste stand aber bevor», fuhr der Holzfäller betrübt fort. «Als die tückische Gingema sah, daß sie auf diese Weise nichts ausrichten kann, beschloß sie, mir den Garaus zu machen. Sie verhexte abermals meine Axt, und diese hieb mich entzwei. Glücklicherweise kam auch das dem Schmied zu Ohren, und er fertigte mir einen eisernen Rumpf an, den er durch Scharniere mit dem Kopf, den Armen und den Beinen verband. Leider hatte ich kein Herz mehr, denn das konnte mir der Schmied nicht einsetzen. Da dachte ich, daß ein Mensch ohne Herz kein Recht habe, ein Mädchen zu lieben, und ich entband meine Liebste ihres Versprechens. Seltsamerweise war das Mädchen gar nicht erfreut darüber, sie sagte, daß sie mich nach wie vor liebe und warten werde, bis ich's mir überlege. Jetzt weiß ich nichts von ihr, denn ich habe sie schon über ein Jahr nicht gesehen…»
Der Eiserne Holzfäller seufzte, und Tränen rannen ihm aus den Augen.
«Vorsicht», rief der Scheuch erschrocken und wischte mit seinem blauen Taschentuch die Tränen des eisernen Mannes ab. «Du könntest ja wieder verrosten!»
«Ich danke dir, mein Freund!» sagte der Holzfäller. «Ich hab ganz vergessen, daß ich nicht weinen darf. Mir ist jede Art von Wasser schädlich… Ich war also stolz auf meinen neuen eisernen Körper und fürchtete mich nicht mehr vor der verhexten Axt. Nur vor Rost fürchtete ich mich, und deshalb trug ich immer eine Ölkanne bei mir. Nur einmal vergaß ich sie, und ausgerechnet damals regnete es in Strömen. Ich rostete ein, daß ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte, und stand so da, bis ihr mich erlöst habt. Ich bin davon überzeugt, daß es die tückische Ginaema war, die den Regen damals auf mich niedergehen ließ… Ihr könnt euch kaum vorstellen, wie. schrecklich es ist, ein volles Jahr im Walde zu stehen und darüber nachzudenken, daß man kein Herz hat!»
«Damit kann man höchstens das Aufgespießtsein auf einem Pfahl mitten in einem Weizenfeld vergleichen», unterbrach ihn der Scheuch. «Allerdings kamen Menschen vorbei, und ich konnte mich auch mit den Krähen unterhalten.»
«Als ich geliebt wurde, hielt ich mich für den glücklichsten Menschen der Welt», fuhr der Eiserne Holzfäller seufzend fort. «Wenn Goodwin mir ein Herz gibt, werde ich ins Land der Käuer zurückkehren und meine Liebste heiraten. Vielleicht wartet sie noch auf mich…»
«Und ich ziehe trotzdem ein Gehirn vor», beharrte der Scheuch, «denn ohne Gehirn ist das Herz zu nichts nütze.»
«Ich aber will ein Herz», beharrte der Eiserne Holzfäller. «Ein Gehirn macht den Menschen noch nicht glücklich, und das Glück ist doch das Schönste auf Erden.»
Elli schwieg, denn sie wußte nicht, wer von ihren neuen Gefährten recht hatte.
Elli wird von einem Menschenfresser geraubt
Der Wald wurde immer dichter. Die Zweige, die sich in den Kronen verflochten, ließen keinen Sonnenstrahl durch. Auf dem gelben Backsteinweg war es fast dunkel.
Die Wanderer gingen bis spätabends. Elli war sehr müde, und der Eiserne Holzfäller nahm sie auf die Arme. Der Scheuch, der die schwere Axt trug, wankte hinterher.
Schließlich machten sie halt, um zu übernachten. Der Eiserne Holzfäller baute für Elli eine bequeme Laubhütte, vor der er mit dem Scheuch die ganze Nacht über sitzen blieb. Sie lauschten den Atemzügen des Mädchens und wachten über ihren Schlaf.
Am Morgen gingen sie weiter. Der Wald lichtete sich, die Bäume am Wegrand standen nicht mehr so dicht, und die Sonne schien hell auf die gelben Backsteine herab.
Wahrscheinlich hielt hier jemand den Weg instand, denn die Zweige, die der Wind abgebrochen hatte, lagen in Stapeln am Wegrand aufgeschichtet.
Plötzlich erblickte Elli einen Pfahl mit einem Brettchen, auf dem zu lesen war:
Elli staunte.
«Was bedeutet das? Werde ich von hier geradewegs nach Kansas kommen, zu Vater und Mutter?»
«Und ich?» fügte Totoschka hinzu, «werde ich vielleicht Nachbars Rektor, den Prahlhans, verprügeln, der so tut, als sei er stärker als ich?»
Elli war außer sich vor Freude und stürzte vorwärts. Totoschka folgte ihr mit frohem Gebell.
Der Eiserne Holzfäller und der Scheuch, die der interessante Streit ob das Herz dem Gehirn vorzuziehen sei oder umgekehrt, völlig in Anspruch nahm, merkten gar nicht,
das Mädchen ihnen vorausgeeilt war. Plötzlich hörten sie es schreien und Totoschka wütend bellen. Sie liefen auf den Lärm zu, sahen aber nur noch eine zottige dunkle Gestalt im Dickicht verschwinden. Neben einem Baum lag ohnmächtig Totoschka, aus dessen Nase Blut strömte.
«Was ist geschehen?» fragte der Scheuch bestürzt. «Mir scheint, ein wildes Tier hat Elli geraubt.»
Der Eiserne Holzfäller erwiderte nichts. Er blickte nur starr geradeaus und fuchtelte drohend mit seiner riesigen Axt.
«Quirr… quirr…», schnarrte ein Eichhörnchen höhnisch auf dem Wipfel eines Baumes. «Was ist geschehen? Zwei große kräftige Männer haben auf ein kleines Mädchen nicht aufpassen können, und ein Menschenfresser hat es geraubt.»
«Ein Menschenfresser?» wiederholte der Eiserne Holzfäller. «Ich wußte nicht, daß es Menschenfresser in diesem Wald gibt.»
«Quirr… quirr… Das weiß doch jede Ameise! Schämen sollt ihr euch! Habt auf das Mädelchen nicht achtgeben können! Nur das kleine schwarze Tierchen hat es tapfer ver-
teidigt und den Menschenfresser gebissen, doch dieser versetzte ihm einen solchen Tritt mit seinem ungeheuren Fuß, daß es jetzt wahrscheinlich sterben wird…»