S. BELJAEW
DER
ZEHNTE
PLANET
S. BELJAEW
DER
ZEHNTE
PLANET
2. AUFLAGE
1948
SWA-VERLAG/BERLIN
С. БЕЛЯЕВ
ДЕСЯТАЯ ПЛАНЕТА
1945
Aus dem
Russischen übertragen von
A. MEMORSKIJ
Illustrationen von R. Lieder
Satz: Oswald Schmidt GmbH., Leipzig
Druck: Jachner & Fischer, Leipzig
I
Gegen Abend des 20. Dezember 1956 hatte sich das Wetter endgültig verschlechtert. Graue Wolken hingen niedrig über dem Gebäude des Astronomischen Hauptinstituts. Der kalte Rauhreif stand wie ein leichter, durchsichtiger Nebel draußen vor den Fenstern des Arbeitszimmers des Direktors.
Michail Sergejewitsch telephonierte nach Hause, man solle zum Abendessen nicht auf ihn warten, legte leise den Hörer auf und trat ans Fenster. Er vernahm das grimmige Heulen des herbstlichen Windes, das vom Strand her kam. Der Nebel wurde immer dichter. Einzelne Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben und liefen langsam als dünne Wasserfäden herab.
Michail Sergejewitsch zog sorgfältig an beiden Fenstern des Arbeitszimmers die schweren Samtvorhänge vor.
Er hatte den Entschluß gefaßt, heute hier zu arbeiten.
Es war üblich, daß genau um 23.45 Uhr der diensthabende Assistent im Arbeitszimmer erschien und mitteilte, das Auto sei vorgefahren. An dieser Ordnung hielt Michail Sergejewitsch schon sieben Jahre fest und war stolz darauf, indem er die Pedanterie im Alltag gerade für sich als unentbehrlich betrachtete, indessen seine astronomischen Berechnungen durch die elegante Deutlichkeit der Formeln ständig Bewunderung und Begeisterung hervorriefen.
Die Decke, mit einem massiven Kronleuchter aus Bronze, war in Halbdunkel gehüllt, und das angenehme Licht einer Tischlampe beleuchtete nur das Schreibgerät und die silberne Schreibmappe mit der Widmung:
»Dem teuren Freund und Lehrer, Mitglied der Akademie der Wissenschaften M. S. Solnzew, dem Direktor des Astronomischen Hauptinstituts, von den ihm in Liebe ergebenen Schülern und Mitarbeitern. 1. Mai 1952.«
Der Gelehrte liebte es, abends an diesem Tisch zu arbeiten, nachdem die mühevollen Direktorialpflichten des Tages erfüllt waren. Wenn der Regen an die Fensterscheiben prasselte, erschien ihm das Zimmer besonders traut und behaglich, und die von ihm so geliebte Arbeit war äußerst verlockend.
Der Gelehrte ließ sich in den Sessel nieder und drückte auf einen Knopf. Die Tür wurde geöffnet, und auf der Schwelle erschien die schlanke Gestalt eines jungen Mädchens.
»Haben Sie gerufen, Michail Sergejewitsch?«
»Ja«, antwortete der Gelehrte, indem er versuchte, das Gesicht des Mädchens zu erkennen.
Leicht schritt das Mädchen über den dicken Teppich und näherte sich dem Tisch.
»Ah«, sagte der Gelehrte freundlich, »heute sind Sie, Tatjana Jurjewna, der diensthabende Assistent? Legen Sie mein Telephon zu sich um. Ich werde, wie immer, bis dreiviertel zwölf arbeiten. Wer hat Dienst im Vestibül?«
»Portier Jakowlew . . .«
»Sagen Sie ihm, er soll niemand zu mir hereinlassen. Falls etwas Wichtiges ist, soll er Sie zuerst anrufen, und Sie werden dann schon sehen. Wenn Larion Petrowitsch aus dem Physikalischen Institut anruft, verbinden Sie unverzüglich.«
»Ich werde alles erledigen.«
»Ich glaube, das ist alles. Ach ja, wenn Sie sich Ihren Tee gekocht haben, bringen Sie mir doch auch eine Tasse, meine Wohltäterin.«
»Mit Vergnügen«, lächelte die Assistentin.
Wenn Solnzew »Wohltäterin« sagte, so bedeutete das — er ist in guter Stimmung, und der Dienst verspricht, ruhig zu verlaufen. Es kam aber auch vor, daß Solnzew plötzlich mitten in der Nacht einen dringenden Auftrag erteilte, alle Diensthabenden wecken ließ und ihnen komplizierte Berechnungen aufbürdete. Am nächsten Morgen erzählte man sich dann im Astronomischen Hauptinstitut schmunzelnd, daß der Chef geruht habe, launisch zu sein.
In wenigen Minuten wurde eine Tasse Tee, die einen aromatischen Duft verbreitete, auf den Tisch gestellt. Der Gelehrte dankte der Assistentin und fügte hinzu:
»Ich könnte mich in die Arbeit vertiefen und es vergessen, darum kommen Sie bitte genau um 11 Uhr 45 herein und erinnern mich.«
»Sie können sich auf mich verlassen, Michail Sergejewitsch, genau um 11 Uhr 45.«
Kopfnickend entließ der Gelehrte die Assistentin. Sie entfernte sich lautlos und schloß hinter sich die schwere Eichentür.
Der Gelehrte Solnzew liebte die Astronomie und war stolz auf sie, zumal sie die älteste aller Naturwissenschaften ist. Als er noch Schüler war, machte eine Erzählung des Lehrers über die Struktur des Weltalls auf ihn einen erschütternden Eindruck, und das Universitätsobservatorium, welches ein Teleskop besaß, betrat er das erstemal mit einem Gefühl der Andacht. Jetzt, wo seine Werke über Aufbau, Bewegung und Entwicklung des Sternensystems allgemeine Anerkennung gefunden hatten, hielt er es für seine Pflicht, seine Kenntnisse der Jugend zu vermitteln. Unermüdlich wiederholte er in volkstümlichen Büchern, daß die Bekanntschaft mit der Astronomie für jeden unerläßlich sei, der seinen geistigen Horizont erweitern und sich über die Stellung des Menschen im Weltall im klaren sein will.
Heute mußte der Gelehrte für eine volkstümliche Zeitschrift einen Artikel verfassen: »Was wissen wir vom Sonnensystem?« Er wollte diese indirekte Unterhaltung mit der Jugend möglichst warm und originell beginnen. Er wußte um die bezaubernde Kraft poetischer Strophen, und die ihm liebsten Gedichtbände hatte er stets bei der Hand. Das Buch des tschechischen Dichters Boleslav Lutschenek aufschlagend, las er die ihm gefallenden Zeilen:
Ich bin ein Träumer. Ich entsinne mich,
Wie einst ich sah die Stadt, die zu erreichen
So lange ich ersehnt mit Leidenschaft.
Sie lag im Tal, geheimnisvoll verborgen;
Die spitzen Türme aber in der Ferne
Erglänzten plötzlich durch die Wolken, die
Zerrissen waren von der grellen Sonne.
Bald wurd’ der Nebel dichter,
Und für immer nun verschwand die Stadt,
Umhüllt vom Dunkel! Lebe wohl! Ich freue mich
Und bin beglückt, dich einen Augenblick
Erschaut zu haben!
Der Gelehrte seufzte, fing an zu schreiben und war bald ganz in seine Arbeit vertieft. Er schrieb, daß der Wissenschaft neun große Planeten bekannt sind und etwa zweitausend kleine, Asteroiden genannt. Alle diese Himmelskörper drehen sich in derselben Richtung wie die Sonne.
»Die Größe der Planeten«, schrieb der Gelehrte, »ist unendlich klein im Verhältnis zur Sonne und zu den Entfernungen, die sie trennen. Stellen wir uns unsere Sonne verkleinert, etwa in der Größe einer Kirsche vor. Dann würden unsere Planeten wie feinste Stäubchen erscheinen. Das Erde-Stäubchen müßte man dann von der Sonne-Kirsche in einer Entfernung von einem Meter placieren und das Stäubchen — den neunten Planeten Pluto — vierzig Meter weit. Wenn wir in demselben Maßstab die Entfernung zwischen der Sonne und dem nächsten Fixstern zeigen wollen, so müßten wir die zweite Kirsche 270 Kilometer weit entfernt unterbringen.«
In Gedanken versunken, hatte der Gelehrte nicht gleich begriffen, daß draußen vor dem Fenster irgendwelche sonderbaren Laute erschollen: als ob sich eine Jazzband, ihre Instrumente stimmend, direkt den Fenstern näherte.
»Was ist das?« murmelte der Gelehrte.
Er steckte den Bleistift in die Tasche, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. Eine dichte Finsternis ließ die Fensterscheiben schwarz erscheinen, als ob sie absichtlich mit Tinte bestrichen wären. Der Gelehrte lehnte sein Gesicht an die kalten Scheiben. In demselben Augenblick zuckte ein blendendes Licht auf, gleich dem blitzartigen Schein von Meteoren. Für die Dauer einer Sekunde wurde alles hell beleuchtet, was die undurchdringliche Finsternis sonst verbarg.