Wie an einem sonnigen Mittag sah der Gelehrte ganz deutlich den bekannten Hof des Instituts und das prächtige Gebäude des Observatoriums mit seiner breiten Kuppel, die nackten Baumkronen und weiter unten die einzigartigen Konturen seiner Vaterstadt. Gleich hier unter dem Fenster sah er den nassen Asphalt des kleinen Platzes, einen Teil der Auffahrt und die grünliche Silhouette eines kleinen, einer Zigarre ähnelnden Autos. Und wieder versank alles im Dunkel. Verblüfft durch diesen überraschenden Vorgang, fuhr der Gelehrte zurück und zog die Vorhänge ruckartig zu. Er versuchte mit Anstrengung seiner wieder Herr zu werden und streckte langsam seine sonderbar erstarrten Finger. Das Chronometer zeigte 11 Uhr 44.
Hinter dem Rücken des Gelehrten ging die Tür auf, und jemand trat in das Arbeitszimmer.
»Sind Sie es, Tatjana Jurjewna?« fragte der Gelehrte, ohne sich umzusehen. Er war noch beherrscht von der soeben erlebten Erregung.
»Nein, das bin ich«, antwortete eine unbekannte Stimme. Der Gelehrte drehte sich rasch herum.
»Wer? Wer sind Sie?«
Im Halbdunkel des Arbeitszimmers stand, sich als schwacher Umriß auf dem Hintergrund der Tür abzeichnend, ein wohlgestalter großer Mann.
II
»Verzeihung!« sagte der Eingetretene höflich. »Hier ist es furchtbar dunkel. Kein Wunder, daß Sie mich nicht erkannt haben, Michail Sergejewitsch. Ich bin es, Jura . . .«
Wahrscheinlich hatte der Mann den Schalter angedreht, weil nun das Licht des Kronleuchters das Arbeitszimmer erhellte, und schöne Lichtreflexe spielten auf den Mahagonischränken und den Kupferstichen.
»Ich bin Jura, Ihr Schüler . . . Guten Abend!« grüßte der Mann mit jugendlich befangenem Lächeln.
Der Gelehrte öffnete weit seine, Arme mit grüßender Geste.
»Jurotschka?« rief er aus. »Sie? Jurij Kitschigin? Der Beste aus dem Gestirn meiner Anwärter des Jahres 1941!«
Sie tauschten einen kräftigen Händedruck. Der Gelehrte lief, erregt durch den unerwarteten Besuch, hin und her, unschlüssig, welchen Platz er seinem teuren Gast am besten anbieten solle.
»Auf welche Weise kommen Sie so plötzlich her, wie ein kosmischer Sturm?! Ich muß gestehen, daß ich Sie wegen Ihres stürmischen Enthusiasmus liebhatte. Immer schien es mir, als ob Ihr Lebensweg eine sehr interessante Parabel darstelle, räumlich und zeitlich. Nun, mein lieber Jurissimus, setzen Sie sich in den Sessel und erzählen Sie! Erstaunlich, wie jung Sie aussehen! . . .«
Und wirklich, Jura hatte sich gar nicht verändert. Keine Falte war auf dem lieben vertrauten Gesicht zu erkennen. Er hatte denselben tadellosen Scheitel wie früher; um seinen steifen Kragen war derselbe dunkelblaugestreifte Schlips gebunden, und auch sein eleganter grauer Anzug war dem Gelehrten längst bekannt.
Jura hatte voll Höflichkeit gewartet, bis sich der Gelehrte als erster in den tiefen Ledersessel neben dem Schrank niederließ; dann setzte er sich auch.
Der Gelehrte sah, daß Juras dunkle Augen mit einem besondern Ausdruck der Hoffnung und der Bitte auf ihn gerichtet waren, und sagte:
»Erzählen Sie . . .!«
Jura rückte seine Krawatte zurecht.
»Ein außerordentlicher Umstand hat mich hierhergeführt. Ich komme mit einer großen Bitte zu Ihnen . . .«
Ungeduldig bewegte sich der Gelehrte in seinem Sessel.
»Ich werde jede Ihrer Bitten erfüllen, aber zuerst erzählen Sie, wo Sie gesteckt haben. Denken Sie sich! . . . Ich mühe mich mit Kitschigin, als meinem Nachfolger auf dem Katheder, ab. Für seine Abhandlung auf dem Gebiete der Theorie der Sternströme wird er mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet. Plötzlich aber fangen Kitschigins Gedanken an, irgendeine äußerst komplizierte Parabel zu zeichnen, und er erfindet eine neue Hypothese der Entstehung des Planetensystems. Aber später, nachdem er die Theorien von Jeans1), Russell2) und Eddington3) kurz und klein geschlagen hat, verschwindet Kitschigin plötzlich, ohne jemandem zu sagen wohin . . . Entweder nach Pamir oder nach Tibet . . .«
»Ich war die ganze Zeit im Altajgebirge«, antwortete Jura bescheiden.
»Das ist gut, dazu kann man nichts sagen!« lächelte der Gelehrte. »Zum Einsiedler geworden? Zum Phantasten? Und ich vermisse Sie hier wie meine rechte Hand. Es war notwendig, das Observatorium wiederherzustellen. Die verfluchten Faschisten hatten die Nebengebäude gesprengt und das Instrumentarium geplündert . . . Das sind Schurken! Mit den Bibliotheksdokumenten haben sie die Öfen geheizt! In dem Gebäude, wo Ihr Labor untergebracht war, erinnern Sie sich, neben dem Meridiankreis, haben die Hitleraffen einen Schweine- oder Pferdestall eingerichtet. Der Teufel soll sie holen! . . .«
»Ich weiß«, gab Jura zur Antwort.
»Aber wir haben die Zeit in diesen Jahren nicht vergeudet. Morgen zeige ich Ihnen, was wir hier alles gebaut haben; da werden Sie staunen . . .«
»Ich habe auch gebaut; nur an einem andern Ort. Über meine Reise ins Altajgebirge durfte ich mich damals nicht auslassen. Das Observatorium im Altajer Hochgebirge ist von mir erbaut worden. Sie haben selbstverständlich meine Artikel gelesen . . . Professor Kritschigin . . .«
»Was?« Der Gelehrte war ganz überrascht. — »Kritschigin? Haben Sie Ihren Familiennamen geändert?«
»Ja. Im Grunde genommen habe ich nur die Schreibung berichtigt, den Fehler der Paßstelle korrigiert. Mein Vater trug den Namen Kritschigin. Erst nach dem Kriege erfuhr ich von seinem Heldentod an der Front, und dann . . . Sie verstehen schon . . .«
Mit halbgeschlossenen Augen dachte der Gelehrte nach:
»Ja, ja . . . Ihre Artikel habe ich gelesen, aber nicht gebilligt, Sie sind nicht nur ein Träumer, Sie sind ein Phantast! Ich weiß schon, Sie werden mir jetzt sagen, wie damals beim Examen, daß in jeder Hypothese ein Element der Phantasie steckt. Ein Element schon, mein Wohltäter, aber nicht als Grundlage. Eine Nuance, aber nicht der Kern! . . . Na, schon gut, jetzt bin ich aber ganz Ohr, Professor.«
Der Gelehrte verwandelte sich in einen aufmerksamen Zuhörer. Etwas aufgeregt ergriff Jura das Wort:
»Die Zeit ist sehr kostbar, ich habe mich sehr beeilt, zu Ihnen zu kommen, und deswegen werde ich mich kurz fassen. Ich habe Sie genau fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen. Sie, teurer Lehrer, haben sich auch gar nicht verändert.«
»Eh«, erwiderte der Gelehrte, »ich werde am Vorabend des nächsten Vollmondes einundsechzig Jahre alt . . . Entschuldigen Sie, wie alt sind Sie denn?«
»Ich stehe im fünfunddreißigsten Sie haben schon recht, Michail Sergejewitsch, in den letzten Jahren verlief mein Leben eigentlich nicht wie eine Parabel, sondern vielmehr wie eine ziemlich komplizierte geschlossene Kurve zweiten Grades, wenn wir uns mathematisch ausdrücken wollen. Ich widmete mich begeistert der Entstehung des Planetensystems und habe eine Möglichkeit gefunden, alles ausschließlich durch die innern Prozesse zu erklären, die sich im Sonnenkern abspielten, als dieser gelbe Zwerg noch ein pulsierender Gigant war, wie jeder der Cepheiden4). Aber meine geschlossene Kurve ging natürlich zu dem entgegengesetzten Punkt.«
»Zum Pol!« hielt der Gelehrte für notwendig einzufügen.
Er fing an, Gefallen an dem Gespräch zu finden; auch liebte er die mathematischen Gleichnisse in den Reden der Astronomen.
»Ganz richtig. Als die scharfen Artikel der Professoren des Observatoriums Mount Wilson mich aufs Haupt schlugen, habe ich nicht die Hände in den Schoß gelegt und mich verletzt gefühlt. Ich fing an, neue Beweise für die Richtigkeit meiner Theorie zu suchen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich ins Altajgebirge zurückzuziehen und mich dort verborgen mit der Prüfung der Gesetze der Himmelsmechanik zu beschäftigen.«