»Oh!« — erstaunt breitete der Gelehrte die Arme aus.
»Haben Sie sich selbst gegen Newton erhoben? Gegen das Gesetz der Universal-Schwerkraft? Na, wissen Sie . . . Übrigens fahren Sie fort . . . Ich werde schon mit Ihnen fertig . . .«
Jura zuckte leicht mit den Achseln:
»Bitte sehr . . . Die gründliche Vertiefung in die Gesetze, die uns als ewig erscheinen, hat mich überzeugt, daß Newtons Genie nur bezüglich eines Zeitabschnittes, der mit hundert Millionen Jahren bemessen wird, recht hat. Ich muß sagen, daß mir einige fruchtbare Gedanken gekommen sind, als ich die Gesetze der Himmelsmechanik in der Physik der Atome angewandt habe. Das gestartete mir, manche praktische Folgerungen zu ziehen . . .«
»Hm! Konkret?« brummte der Gelehrte. »Ein interessanter Pol«, fügte er spöttisch hinzu.
»Sie wissen doch, daß es in der Astronomie Fälle gibt, wo die Bewegungen der Gestirne, die ganz genau nach den Regeln der klassischen Himmelsmechanik berechnet sind, nicht den Ergebnissen der genauesten Beobachtungen entsprechen, ja, ja . . . nehmen wir den bekannten Enkeschen Kometen. Die Veränderungen in seiner Bahn sind rätselhaft. Warum?«
»Und Sie wissen es nicht?« lachte der Gelehrte leicht gereizt. »Machen Sie sich die Mühe, aus diesem Schrank vom dritten Fach links, den astronomischen Kalender zu nehmen, und schauen Sie hinein. Dort sind schwarz auf weiß die Berichtigungen zu den Berechnungen gedruckt . . .«
»Ich kenne alle Berichtigungen auswendig«, lächelte Jura. »Aber ich denke mir, daß die Ziffern der Berichtigungen nur eine noch unbekannte physikalische Erscheinung widerspiegeln, die zu ergründen unsere Pflicht ist . . .«
»Aha«, meinte mit vorgeschützter düsterer Ruhe der Gelehrte, sein Taschentuch herausziehend, um sich die ausbrechenden Schweißperlen von der Stirn zu wischen. »Sie, Jurotschka, sind ein Ketzer! Jetzt werden Sie mir den Planeten Merkur anführen . . .«
»Ja, nickte Jura. Warum wendet sich die Ellipse, auf welcher sich Merkur, der nächste Planet zur Sonne, bewegt, auf der großen Achse zu schnell? Warum muß man jedes Jahr unzählige Berichtigungen machen? Na ja, alle haben vermutet und vermuten noch, daß diese Beschleunigung durch die Anziehungskraft eines unbekannten Planeten hervorgerufen wird, der noch näher zur Sonne ist als Merkur. Aber dreißigtausend Aufnahmen der Observatorien der ganzen Welt haben auch nicht den kleinsten Hinweis auf einen solchen Planeten entdeckt. Hunderte von Astronomen haben mit den Fernrohren die ganze Himmelssphäre abgesucht und nirgends etwas gefunden. Sie konnten ihn auch nicht finden . . .«
»Weil er eben gar nicht existiert«, brummte, im höchsten Maße gereizt, der Gelehrte.
»Nicht deswegen«, erwiderte Jura höflich. »Der zehnte große Planet in unserm Sonnensystem existiert.«
III
Der Gelehrte konnte es nicht mehr aushalten. Er sprang vom Sessel auf.
»Was fällt Ihnen ein? Sie wollen mich wohl zum besten halten? Jeder Schüler weiß, daß neun große Planeten um die Sonne kreisen. Neun, geehrter Herr Professor!«
Und er begann, an den Fingern aufzuzählen:
»Merkur — eins . . . Venus — zwei . . . Dieser Planet, auf welchem wir jetzt stehen, die Erde — drei.« Gereizt stampfte der Gelehrte dabei mit dem rechten Fuß auf den dicken Tekinteppich.
»Mars . . . Jupiter . . . Saturn . . . Uranus . . . Neptun und schließlich«, der Gelehrte bog den neunten Finger, »Pluto — der neunte! Verstehen Sie, der neunte!! . . .«
Er streckte die Hände mit den umgebogenen Fingern fast bis zu Juras Nase; nur der Daumen der linken Hand blieb gerade und wirkte herausfordernd.
Jura blieb ernst. Auch er streckte dem Gelehrten einen Finger der rechten Hand entgegen und klopfte mit dem Zeigefinger der linken darauf:
»Da ist er . . . der Zehnte . . .«
»Sooo . . .«, sagte der Gelehrte, etwas überlegend, indem er sich bemühte, seine Ruhe wiederzu gewinnen.
Er durchsuchte seine Taschen, holte das Brillenfutteral hervor und setzte sich die Brille auf, was er nur in feierlichen Augenblicken erbitterter wissenschaftlicher Dispute zu tun pflegte. Er schaute auf Jura. Durch die Gläser erschien ihm jetzt Juras Gesicht etwas voller. Mit den Händen auf dem Rücken und mit dem Ton eines Menschen, der fest entschlossen ist, sich über nichts zu wundern, stellte er eine sachliche Frage:
»Der Zehnte? Liegt seine Bahn innerhalb der Bahn von Merkur?«
»Nein.«
»Der Zehnte . . . hinter Pluto?«
»Nein.«
»Dann machen Sie mir die grundlegenden Angaben über Ihren Zehnten.«
Der Gelehrte sagte das in dem kühlen Ton eines Examinators, indem er in seiner Tasche nach dem Bleistift suchte, auf den Moment wartend, da er mit ruhigem Gewissen Jura, wenn nicht eine Null, so doch eine fette Eins würde vermerken können.
Jura stellte sich vor den Lehrer, und in dem sichern Ton eines Schülers, der bei der Abschlußprüfung ein Glückslos gezogen hat, begann er zu sprechen:
»Durchschnittsentfernung des Zehnten von der Sonne beträgt hundertneunundvierzigundeinhalb Millionen Kilometer. Die Geschwindigkeit der Bewegung auf der Bahn ist neunundzwanzigunddreiviertel Kilometer in der Sekunde. Die Masse des Zehnten ist ungefähr dreihundertdreißigtausendmal kleiner als die der Sonne . . .«
Jura stellte sich vor den Lehrer, und in dem sichern Ton eines Schülers, der bei der Abschlußprüfung ein Glückslos gezogen hat, begann er zu sprechen.
Das Gesicht des Gelehrten wurde abwechselnd blaß und rot. Er konnte sich kaum beherrschen.
»Genug!« unterbrach er. »Sie haben sich wahrscheinlich verhört. Ich frage nach Einzelheiten über den zehnten Planeten, und Sie stammeln alle gut bekannten Angaben über die Erde. Nun sagen Sie mir nur noch, daß sich der Zehnte auf einer Ellipse bewegt, in deren einem Brennpunkt sich die Sonne befindet, daß er um die Sonne im Laufe von dreihundertfünfundsechzig Tagen, fünf Stunden, achtundvierzig Minuten und sechsundvierzig Sekunden kreist . . . Sagen Sie es mir; ich notiere Ihnen eine Eins und werfe Sie hinaus.«
Jura sah, daß der Unterkiefer des Gelehrten vor Wut bebte, und schlug bescheiden die Augen nieder.
»Vorläufig kann ich die Dauer des tropischen Jahres des Zehnten nicht angeben, weil ich die Geschwindigkeit der Umdrehung um seine Achse nicht kenne. Man kann aber vermuten, daß die Angaben über diese Umdrehung dem entsprechen, was Sie soeben gesagt haben. Das Wichtigste ist, daß der Zehnte auf derselben Bahn um die Sonne kreist wie unsere Erde . . .«
Und Jura klopfte, als wenn er seinen Worten Nachdruck verleihen wollte, ohne jeden Spott mit dem Absatz auf den Teppich. Sein Gesicht bewahrte die Leidenschaftslosigkeit eines Gelehrten, der sogar vor dem Revolverlauf nicht von seiner Überzeugung abzubringen ist, daß ein mal eins stets eins ergibt.
Die Brille des Gelehrten rutschte von selbst herunter. Er rief aus:
»Die zweite Erde?«
»Ja«, antwortete Jura. »Der Zehnte ist ein genaues Double unseres Dritten.«
IV
Der Gelehrte trat schweigend an den Tisch und nahm die Teetasse. Er hatte den Wunsch, sich den ganzen Inhalt über den Kopf zu gießen. Aber er trank den Tee gierig aus, obgleich er so kalt war wie das Wasser aus dem Leitungshahn. Das hatte den Gelehrten erfrischt. Er stellte die Tasse vorsichtig auf die Untertasse und drehte sich um.
Jura saß auf der Armlehne des Sessels, die Beine übereinandergeschlagen, und sagte:
»Ich scherze nicht . . . Entschuldigen Sie, bitte, wenn ich Ihnen etwas Unangenehmes gesagt habe . . . Aber ich versichere Sie, daß meine Berechnungen ganz genau sind! . . . Es ist wahr, daß man von der Erde aus den Zehnten nicht beobachten kann. Ich werde auch erklären warum. Stellen Sie sich vor, Michail Sergejewitsch, daß auf derselben Bahn um die Sonne zwei, im Grunde genommen gleiche Planeten kreisen: die Erde und ihr Double, der Zehnte. In jedem Moment ihrer Bewegung befinden sie sich an den gegenüberliegenden Punkten der Bahn. Da der Durchmesser jedes dieser Planeten hundertundneunmal kleiner als der der Sonne ist, so wird die einfachste geometrische Zeichnung Ihnen sagen, warum sie füreinander unsichtbar sind . . .«