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Der Gelehrte entfernte sich rückwärts von Jura und setzte sich auf den Tischrand.

Jura fuhr, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, fort:

»Stellen Sie sich vor: Zwei winzige Kügelchen kreisen an einer Stange um einen riesigen Ball, und wir beide, ganz winzig und tausendmal kleiner als die kleinste Mikrobe, befinden uns auf einem der Kügelchen . . . Können wir jemals das von dem Riesenball verdeckte gegenüberliegende Kügelchen erblicken?«

Zustimmend nickte der Gelehrte mit dem Kopf:

»Zwei Mohnkerne, die um eine große Mitschurinkirsche5) laufen?«

»So ist es nämlich«, lachte Jura erfreut. »Oder noch besser: zwei Elektronen um einen Heliumkern herum. Ganz real . . .«

Die Augenbrauen des Gelehrten zogen sich zusammen.

»Die von Ihnen behauptete ‚Realität‘ — ich setze sie zwischen Anführungszeichen — wollen wir jetzt auf die einzig richtige Weise prüfen: mathematisch. Schreiben Sie die Aufgabe: ‚Die wahre Lage von Merkur ist auszurechnen . . .‘«

Jura holte einen Notizblock, schüttelte den Füllfederhalter und machte sich zum Schreiben fertig. Der Gelehrte diktierte:

»‚Von Merkur am zwanzigsten Oktober 1956, zwölf Uhr nach Sternenzeit . . .‘ Ich erinnere: der Bogen der rückwärtigen Bewegung zwölf Grad. Berechnen Sie mit Berücksichtigung der Existenz Ihres Zehnten . . .«

Jura begann mit der Berechnung und reichte bald seinem Lehrer die vollgeschriebenen Blätter des Notizblocks.

»Hm! Wir wollen prüfen«, bemerkte der Gelehrte mißtrauisch, ein Logarithmenlineal aus der Jackentasche ziehend.

Mit geübtem Blick sah er die Aufzeichnungen Juras durch, legte das Lineal an; dann lief er zum Schrank und zog aus dem Bücherstapel einen Band heraus. Hastig blätterte er ihn durch und flüsterte fast erschöpft:

»Richtig.«

Das Buch entglitt seinen plötzlich schwach gewordenen Fingern.

Jura hob das Buch auf und stellte es auf seinen früheren Platz im Schrank.

»Ich danke Ihnen, Michail Sergejewitsch . . .«, sagte Jura. »Schon längst wollte ich mich an Sie wenden, aber ich fürchtete mich etwas. Sie sind sehr streng. Heute abend wurde der Entschluß in mir reif, zu Ihnen zu gehen. Ich war dessen sicher, daß Sie meine Entdeckung ausgezeichnet verstehen würden. Aber ich möchte Sie bitten, sich endgültig davon zu überzeugen.«

»Was wollen Sie von mir?« fragte der Gelehrte völlig überrascht.

»Ich möchte Sie bitten, ihn sich gleich anzusehen . . . sich zu vergewissern . . . Vielleicht wären Sie einverstanden, gleich mit mir hinzufahren?«

Jura fügte noch etwas hinzu, aber der Gelehrte hatte es überhört. Er war zu sehr in Gedanken vertieft, die auf ihn einstürmten.

‚Das ist jedenfalls interessant. Kann man es ihm abschlagen? Wahrscheinlich lädt er mich zu sich ein, um mir seine Unterlagen zu zeigen . . . Ist es möglich, daß er diese erstaunliche Entdeckung gemacht hat? Ich fahre . . . Das Auto steht gerade vor der Tür.‘

»Ich bin einverstanden«, sagte der Gelehrte, alles auf der Welt vergessend. »Brechen wir auf.«

Zuvorkommend öffnete Jura die Tür und ließ den Gelehrten vorangehen.

Der Gelehrte ging an dem im halberleuchteten Vestibül leise schnarchenden Portier vorbei. Die starke Hand Juras stützte den Gelehrten beim Überschreiten der Schwelle der Eingangspforte, die sich geräuschlos vor ihnen auftat.

V

Die Nacht war kühl und sonderbar still. Der Gelehrte erblickte den tiefen, klaren, mit Sternen besäten Herbsthimmel. Die Schöpfkelle des Großen Bären hing im Norden rechts vom Polarstern und unterhalb von ihm. Höher strahlten und glänzten die fünf Sterne der Kassiopeia, und die Sternbilder Schwan und Adler hoben sich fast im Zenit ab. Der Regen hatte aufgehört, und eine angenehme Kühle kam vom Strand her. Im unsichern Dämmer der bekannten Sterne stieg der Gelehrte die feuchten Stufen des Eingangs hinab. Er hörte, wie Jura die Tür des Autos aufschloß.

»Machen Sie es sich bequem«, vernahm er Juras Stimme.

Nachdem der Gelehrte den weichen Sitz mit der Hand ertastet hatte, ließ er sich nieder und lehnte den Kopf an die Polsterung. Jura nahm den Platz des Fahrers ein. Ein winziges Lämpchen leuchtete auf, wie ein blaues Sternchen, und dieser kleine Glühwurm ermöglichte dem Gelehrten, die Kabine, das Armaturenbrett und den breiten Rücken Juras zu unterscheiden.

Der Gelehrte wiederholte in seinem Gedächtnis die kleinsten Details des Gesprächs über den Zehnten. Im Geiste erwog er, welche weitern Schlüsse man ziehen müßte, wenn sich auch weitere Berechnungen Juras als exakt erweisen würden. In diesem Augenblick erinnerte er sich daran, daß er Tatjana Jurjewna von seinem Weggehen nicht hatte wissen lassen, nicht zu Hause angerufen sowie Mantel und Hut anzuziehen vergessen hatte . . .

»Wir fahren ab«, vernahm er Juras unternehmungslustige Stimme.

»Nun gut«, murmelte der Gelehrte. »Nur mein Hut!«

Aber ein schreckliches Gepfeif und Getös mit erschütternden Akkorden brach los, daß Jura ganz gewiß die Klage um den vergessenen Hut nicht hören konnte.

Dem Gelehrten schien, als ob der Sitz unter ihm herausgezogen würde. Er schloß fest die Augen, weniger vor Schreck als vor Überraschung.

VI

Die erschütternde Jazzmusik verstummte ebenso plötzlich, wie sie angefangen hatte. Der Gelehrte öffnete wieder die Augen.

Durch die Fenster der Kabine strahlte ein heller, klarer Tag. Eine erstaunlich dunkelblaue, fast violette Ferne, mit sonderbar schönen Sternen besät, dehnte sich unendlich weit aus.

Der Gelehrte blinkerte mit den Augen und stammelte nur:

»Wo sind wir?«

Sofort sah er das lächelnde Gesicht Juras, der sich umgewandt hatte:

»Mit Ihrer Erlaubnis — in einem Taxi, das zwischen den Planeten verkehrt.«

»Wohin?«

»Auf den Zehnten.«

»Auf den Planeten?« fragte der überraschte Gelehrte, eine merkwürdige Leichtigkeit in seinem Körper spürend. Aber das war der letzte Anfall des Erstaunens. Er war nicht mehr imstande, gegen die offenkundigen Tatsachen zu streiten.

Wenn alle Kalender der Welt tollkühn lügen, so waren die astronomischen Jahrbücher über allen Verdacht erhaben. Immer machten sie ehrlich ihre Angaben bis zu einer Genauigkeit von einem Tausendstel. Es war unmöglich zu leugnen, daß Jura, nur die Anziehungskraft seines Zehnten berücksichtigend, imstande war, die genaue Lage dieses verfluchten Merkur glänzend auszurechnen. Die Ziffern der Jahrbücher bestätigten Juras Folgerungen.

Aber zur Zeit rast Jura durch den Weltenraum mit einer Geschwindigkeit, die der Gelehrte nicht feststellen konnte. Rings umher ist Leere, und außer den unbeweglichen Sternen sieht man keinen Gegenstand, der eine Orientierung ermöglichte.

»Auf den zehnten Planeten«, nickte Jura zufrieden.

»Daß er wirklich vorhanden ist, will ich Ihnen auf eine überzeugendere Art beweisen als mathematisch. Es gibt doch auch Möglichkeiten, auf dem algebraischen Wege zu beweisen, daß zwei mal zwei nicht vier, sondern fünf ist oder die Summe der Winkel in einem Dreieck nicht zwei Rechtecke ergibt . . .«

»Die arithmetischen Trugschlüsse kann ich nicht leiden«, der Gelehrte verzog das Gesicht. »Die Unterhaltsamkeit ist in unserer Situation nicht unbedingt notwendig . . .«

»Völlig einverstanden, Michail Sergejewitsch; Ich nehme an, daß wir nämlich das Mittel der persönlichen Bekanntschaft anwenden müssen. Wir statten dem Zehnten einen Besuch ab, und seine Realität wird unwiderlegbar bewiesen . . .«

»Sie sollten eigentlich einen Photoapparat mitnehmen oder, noch besser, eine Taschenfilmkamera mit ausreichendem Filmvorrat«, bemerkte der Gelehrte. »Einen unbefangeneren Zeugen als das Photo gibt es nicht . . .«

»Um die Wahrheit zu sagen, ich habe daran gedacht«, meinte Jura lebhaft, für eine Minute von der Umstellung irgendwelcher Hebel an dem Armaturenbrett abgelenkt. »Aber ich muß gestehen, daß ich dem Photo nicht besonders traue. Man kann eine kleine Pfütze auf der Landstraße zwischen zwei schmutzigen Spuren ganz aus der Nähe aufnehmen, dann die Aufnahme vergrößern und behaupten, daß es sich um eine Berglandschaft mit einem tiefen See handle. Im Altajgebirge ist mein Assistent geblieben, der es verstanden hat, auf diese Weise auf einem Sumpf die Gewächse, wie Moos und Schachtelhalm, zu photographieren und dann den leichtgläubigen jungen Mädchen zu versichern, daß es das genaue Bild eines Waldes aus der Steinkohlenzeit sei . . .«