Der Strahl der Taschenlampe fiel auf den Boden vor der geöffneten Tür.
»Nichts dergleichen«, versicherte Jura. »Sand, trockener Sand. Entweder ist es ein Fußweg oder ein Platz. Gehen wir. Eins, zwei . . .«
Drei! fiel ihm der Gelehrte ins Wort und trat gleichzeitig mit Jura auf den angenehm weichen Sand.
Gewohnheitsmäßig hob der Gelehrte sogleich den Kopf und schaute zum Himmel auf. Das Bild des sich über ihm erstreckenden Himmelsgewölbes überraschte ihn. Ohne den Kopf zu senken, faßte er tastend nach Juras Hand und war nur imstande, zu flüstern:
»Schauen Sie . . . der Himmel . . .«
IX
Die Sterne waren merkwürdig groß, hell und nah. Es schien, daß, wenn man sich auf die Zehen hob, man jeden x-beliebigen von diesen strahlenden Spielzeugen hätte greifen können.
Der Gelehrte erkannte auf den ersten Blick die Umrisse der bekannten Sternbilder. Aber, wenn vor einer halben Stunde, als er das Direktionsgebäude des Astronomischen Hauptinstituts verließ, über ihm die Herbststernbilder standen wie etwa um Mitternacht im Oktober, rollte da oben jetzt ein ganz anderes Bild ab. Am blauen Himmel strahlten majestätisch die Frühlingssternbilder des April.
»Ich sehe«, vernahm der Gelehrte Juras Stimme. »So sollte es auch sein. In sechs Monaten wird die Erde an dieser Stelle der Bahn angelangt sein, und die Menschen werden dann dasselbe Bild bewundern können . . .«
»Was Sie alles sagen!« meinte der Gelehrte achselzuckend, eine neuerliche Gereiztheit in sich spürend. »Das hat eine ganz andere Bewandtnis. Der Polarstern steht beinahe im Zenit. Sind wir etwa auf dem Nordpol? Was für eine Hitze . . . Und dort? Sind es die Sternbilder der südlichen Halbkugel?«
Aber in diesem Moment schwenkte Jura den Arm, und der Gelehrte mußte unwillkürlich eine Drehung von neunzig Grad nach links um seine eigene Achse machen. Er blickte ganz geradeaus und hatte das Gefühl, daß man jetzt außerordentlich kaltblütig sein mußte . . .
Über der welligen Linie des Horizontes, dort, wo die Sternbilder Krebs und Kleiner Hund strahlten, gingen geschäftig zwei große Monde auf. Ziemlich gleichgültig, wie die Augen eines friedlich gestimmten Ungeheuers, tauchten sie über den fernen Hügeln empor, und ein angenehmes Opallicht beschien die beiden Männer. Anfangs spürte der Gelehrte infolge der Überraschung eine gewisse Befangenheit, aber gleich darauf übermannte ihn das große Gefühl einer unbeschreiblichen Freude.
»Jurissimus!« schrie der Gelehrte, »ein Rohr!«
»Was für eins?« fragte Jura.
»Ein x-beliebiges . . ., welches Sie wollen!« schrie wiederum der Gelehrte, einen unüberwindlichen Drang verspürend, mit den Füßen zu stampfen. »Nur nicht ein Wasser- oder ein Ofenrohr. Ein Rohr, zum Donnerwetter! . . . Ich kann doch nicht die Begleiter des Zehnten mit bloßen Augen beobachten.«
»Ich verstehe, Michail Sergejewitsch«, stammelte Jura, und der Gelehrte sah, wie sein Schüler vor Verlegenheit seinen Nacken kratzte, »aber . . .«
»Kein ‚aber‘!« der Gelehrte begann zu zittern. »Was ist denn, haben Sie etwa kein Instrument mitgenommen? Sie waren doch verpflichtet, das beste Meniskteleskop mitzunehmen.«
Die Monde krochen schon hinter den Hügeln hervor und stiegen, offenbar auf Südost Kurs haltend, empor. In ihrem Schein sah der Gelehrte jetzt Jura deutlich neben sich.
»Ich habe gar nicht damit gerechnet . . .«, fing Jura, sich entschuldigend, zu sprechen an.
Der Gelehrte geriet völlig außer Fassung.
»Ein Fernglas! Sofort! Es kann auch ein Opernglas sein . . .«, zischte er. »So rühren Sie sich doch.«
Der Gelehrte konnte seine Augen nicht von den Monden losreißen.
»Ach ja, ein Fernglas habe ich da . . .«, gab Jura erfreut zurück.
»Geben Sie es her«, sagte der Gelehrte etwas beruhigt, »mich interessiert der linke Trabant.«
»Einen Augenblick«, mit diesen Worten stieg Jura hastig in den Planetoplan.
Der Gelehrte konnte seine Augen nicht von den Monden losreißen. Mit einiger Vorstellungskraft konnte man sie für zwei liebliche Reisegefährten halten, die, wohlanständig Hand in Hand, den Aufstieg auf einem längst vorgezeichneten, bekannten Pfad unternehmen. Die Zeichnung ihrer Mondlandschaft war in keiner Weise der Landschaft des irdischen Mondes ähnlich, obwohl sie auch die Konturen von eventuellen Kratern und Gebirgsketten aufwies. Das Fernglas hätte dazu verholfen, sich in einigen Details zurechtzufinden. Vor Ungeduld bebend, schrie der Gelehrte:
»Jurissimus! Schneller! Was treiben Sie so lange?«
Ein unerwartet aufkommender leichter Wind ließ den Gelehrten die Augen etwas zusammenkneifen, um sie vor dem Sandstaub zu schützen. Er wandte sich um und wollte Jura zur Eile antreiben, das erwies sich aber als überflüssig.
Der Planetoplan war verschwunden.
X
Sein erster Gedanke war der, daß Jura absichtlich fortgeflogen sei, wahrscheinlich zur Erde zurück, um ein Fernrohr zu holen. Dann würde er ungefähr in einer Stunde zurück sein, falls . . .
Und plötzlich stürmten unzählige ‚falls‘ auf den Gelehrten ein . . . ‚Falls Jura nicht die Absicht gehabt hatte, ihn für immer auf dem Zehnten zurückzulassen . . .‘ ‚Falls Jura einen ausreichenden Vorrat an Photonen hatte, um diese zweite Reise zur Erde und zurück zu machen . . .‘ ‚Falls es ihm bei seiner Rückkehr von der Erde auch gelingen wird, wieder an genau demselben Punkt zu landen . . .‘ Und das war eben das Schwierigste, beinahe Unmögliche.
‚Falls aber . . .‘ Der Gelehrte überlegte. Es hat nicht wie üblich eine blendende Explosion der Photonrakete gegeben, kein schreckliches Pfeifen und Getöse . . . Vielleicht ist Jura gar nicht weg?
Der Gelehrte rief:
»Jura . . . Jurotschka! Hallo! Wo sind Sie? Hallo . . .«
Irgendwo hallte ein fernes, kaum vernehmbares Echo: »Hallo!«
Eine kühle, erfrischende Ruhe bemächtigte sich des Gelehrten. Er war hier völlig einsam und fühlte sich als Forscher. Seine einzigen Waffen waren ein großer Vorrat an Kenntnissen und sein harter Wille. Er sah sich aufmerksam um. Der Sandplatz, auf welchem er stand, war vom Mondschein überflutet. Bei der Prüfung des Platzes, wo eben noch der Planetoplan gestanden hatte, fand er die tiefen Furchen und den aufgewühlten Sand. Es war aber kein Anzeichen dafür zu finden, daß der Planetoplan weitergerollt war.
Das einzig Wahrscheinliche war also, daß er senkrecht aufgestiegen war.
»Eine interessante Situation«, sagte der Gelehrte laut. »Man muß den Morgen abwarten.«
Von dem Sandplatz, auf welchem er stand, zweigten sich nach verschiedenen Richtungen Fußwege ab. Irgendwelche Gebäude waren in der Ferne zwischen den Baumgruppen sichtbar. Das dichte Gebüsch am nahen Rande des Platzes erinnerte ihn an den Park des Instituts. Er trat an das Gebüsch heran. Die großen weißen Blumen sahen Rosen ähnlich. Er bückte sich. Die Blumen strömten einen feinen Vanillegeruch aus. Unsichtbare Vögel flogen auf; ihre Silhouetten durchkreuzten das Mondlicht.
»Man muß auf den Sonnenaufgang warten«, wiederholte der Gelehrte bestimmt.
Die Monde bewegten sich mit einer bemerkbaren Geschwindigkeit am Himmel. Der Gelehrte schätzte ihre vermutliche Entfernung vom Zehnten, ihre Größe und ihre Umlaufsgeschwindigkeit. Die nach dem Osten ziehenden Wolken verdeckten die beiden Trabanten des Zehnten.
»Wie spät ist es?« wollte der Gelehrte wissen und blickte auf seinen linken Arm, sich bemühend, die leuchtenden Zeiger des Chronometers zu unterscheiden. Aber das Chronometer am Arm fehlte . . . »Wie ist das möglich?« staunte er. »Habe ich es denn in meinem Arbeitszimmer gelassen? Vielleicht habe ich es verloren?«
Das Suchen in der Dunkelheit war zwecklos. Dann mußte man eben die Zeit nach den Sternen feststellen. Auf der Erde stand das Himmelszifferblatt immer zu seiner Verfügung. Wenn man sich vorstellt, daß der Polarstern das Zentrum des Zifferblattes ist, dann ersetzen die zwei äußern Sterne des Großen Bären, Alpha und Beta, durch eine angenommene Gerade verbunden, ausgezeichnet den Uhrzeiger. Man muß nur wissen, daß sich der Zeiger der Himmelsuhr, von der Erde aus gesehen, von rechts nach links bewegt und nicht umgekehrt, wie auf der richtigen Uhr. Man muß außerdem wissen, daß dieser Zeiger um Mitternacht des 20. März 11½ Uhr zeigt, um Mitternacht des 20. April wird er 10½ Uhr zeigen, am 20. Mai 9½ Uhr usw. Jeder Zeitraum von einer Stunde auf dem Himmelszifferblatt gleicht zwei Stunden der irdischen Zeit, und an jedem Tag rückt dieser Himmelszeiger vier Minuten vor.