Der Gelehrte erinnerte sich ausgezeichnet, daß, als er auf der Erde die Stufen an der Eingangspforte hinunterging, der Himmelszeiger etwa 4 Uhr auf dem Himmelszifferblatt anzeigte.
Heute ist der 20. Oktober. Das bedeutet, daß er mit Jura den Planetoplan ungefähr um Mitternacht bestiegen hatte. Der Flug dauerte 28 Minuten. Folglich sind sie um ½1 Uhr nachts nach irdischer Zeit auf dem Zehnten angekommen. Welche Stunde zeigt aber jetzt die Himmelsuhr?
Doch die Sterne am Himmel zeigten jetzt keineswegs das, was der Gelehrte erwartet hatte.
Die Himmelsuhr war nicht in Ordnung. Der von der Erde aus als unbewegliches Zentrum erscheinende Polarstern, um den das sichtbare Himmelsgewölbe kreist, hat sich nach rechts verlagert.
»Sehr angenehm«, in der Aufregung rieb sich der Gelehrte die Hände. »Stellt es sich heraus, daß, der Polarstern schon aufgehört hat, ein Punkt zu sein, gegen den sich die Drehachse der Erde lehnt? Kreist er selbst schon mit andern Sternen um den neuen Polarstern? Wir werden es uns gleich überlegen . . . Früher stand er ungefähr hier . . . So, so, ich danke schön. Alles ist klar. Auf dem zehnten Planeten spielt der Stern Wega, Alpha in der Leier, die Rolle des Polarsterns . . . So wird es auch nach dreizehntausend Jahren bei uns auf der Erde sein. Aber der Alte, der Polarstern, samt der ganzen Himmelssphäre kreist um den hiesigen Polarstern nach dem Gang des Uhrzeigers, und das bedeutet, daß sich der Zehnte in umgekehrter Richtung um seine eigene Achse dreht, also von rechts nach links . . .«
Der Gelehrte stand, das Gesicht der polaren Wega zugewandt, das heißt nach Norden; rechts war Osten, links Westen. Wenn sich der Zehnte, im Gegensatz zur Erde, um seine Achse von Osten nach Westen dreht, so muß die Sonne hier aufgehen . . .
»Im Westen«, sprach der Gelehrte feierlich und wandte sich nach links.
Hohe Berge türmten sich dort auf, spitz, gigantisch, wie eine scharf abgezogene Säge. Langsam verloschen die Sterne über ihren Zacken. Ein zarter rosa Schimmer erhob sich hinter den Bergen, als ob dort ein sonderbar feines, strahlendes Gewebe ausgebreitet würde . . . Zwischen zwei Zacken erschien der goldene Rand der Sonne.
»Sei gegrüßt!« rief der Gelehrte der im Westen aufgehenden Sonne zu.
Er rief diese Worte freudig, denn er war froh, weil er die Überzeugung gewonnen hatte, daß er sich wirklich auf dem neuen Planeten befinde und viele interessante Beobachtungen machen werde. Manches hatte er nun schon über den Zehnten erfahren, was Jura in seinen Berechnungen nicht voraussehen konnte.
Plötzlich hatte der Gelehrte das Gefühl, daß jemand hinter ihm stehe. Er wandte sich um.
XI
Aber niemand war da. Er befand sich allein auf dem von der Sonne überfluteten Platz. Ein breiter Talkessel, von den fernen Bergen umgeben, breitete sich vor ihm aus. Die sandigen Fußwege führten zu den Wäldchen, die freundlich lockten, dort Zuflucht vor der Hitze zu suchen. Dichte Gebüsche und hohes Gras verdeckten den Raum jenseits der Fußwege.
Es war unbedingt wichtig, Jura zu finden. Im Sand waren wenige Spuren. Gerade hier war der Planetoplan gelandet. Genau hier hatten Jura und der Gelehrte gestanden . . .
Der Gelehrte empfand eine Müdigkeit. Er trat an das Gebüsch heran und sah eine Bank. Daneben stand ein Pfahl mit einem Schild, das mit sonderbaren Zeichen beschrieben war.
»Eine Inschrift in der Sprache der Bewohner des Zehnten«, vermutete der Gelehrte. »Ich werde versuchen, sie zu entziffern . . .«
Dichte wellige Linien, ohne jedes Anzeichen von einzelnen Buchstaben, wurden von Dreiecken, Quadraten und Kreisen unterbrochen, und zwar in eigentümlichster Zusammensetzung. Der Gelehrte verstand nichts von diesen Bezeichnungen, aber ihm gefiel die unterste breite Linie . . . Ein Kreis und ein Dreieck waren durch eine fette blaue Linie verbunden. Was sollte das wohl bedeuten?
Er ließ sich auf die Bank nieder und versank in Nachdenken. Er hatte das unbezähmbare Verlangen, nach der schlaflosen Nacht ein Schläfchen zu machen. Doch man müßte unbedingt nach Jura suchen. Was dann, wenn ihm ein Unglück zugestoßen wäre? Auf diesem Zehnten muß man in jeder Sekunde auf eine Überraschung gefaßt sein . . . Man muß sich endlich mit dem Planeten selbst befassen. Ob es auf ihm lebende Wesen gibt, außer den Vögeln, die der Gelehrte nachts aufgeschreckt hatte? Die Pflanzen . . . Er streckte den Arm zum nächsten Gebüsch aus. Die Blätter schienen wie lackiert. Die weißen Blumen haben ihre steifen Blütenblätter geöffnet, und große Tautropfen zittern auf ihnen. Der Gelehrte pflückte eine Blume und drückte sie gierig an seinen Mund. Die kalten Tropfen erfrischten seine ausgetrockneten Lippen. Es wäre gut, wenn man etwas Wasser fände . . . Aber man muß auf der Hut sein. Und wenn der Zehnte mit Raubtieren bevölkert ist? Das wäre ganz schlimm. Wenn sie ihn zerfleischen würden, dann wäre die bemerkenswerte Entdeckung Juras verlorengegangen, und auf der Erde hätte man niemals von der Zwischenplanetenreise zweier Menschen erfahren . . .
Der Gelehrte begann, sich einen Plan für sein Handeln zurechtzulegen. Er verließ sich nie auf sein Gedächtnis; daher holte er auch jetzt aus der Tasche Bleistift und Papier und schrieb rasch auf:
»Der Zehnte . . . Zwei Trabanten. Neigung der Achse zur Fläche der Ekliptik schätzungsweise 23 Grad . . . Richtung der Achse: Wega . . . Drehung von Osten nach Westen . . . Geschwindigkeit . . .«
Er war nicht imstande, diese festzustellen, da das Chronometer verlorengegangen war, und das war ärgerlich. Dieser Jura, der ist gut! Keine Instrumente für solch eine Reise mitzunehmen! Unverzeihlich!
Die Sonne brannte glühend heiß. Man müßte nach Schatten und Wasser suchen. Der Platz stellte einen großen Kreis dar. Direkt vor der Bank lag eine glatte Allee niedriger Bäume, die große hellblaue Blätter trugen. Dem Gelehrten kam plötzlich ein glücklicher Gedanke:
»Der Kreis . . . die blaue Linie . . . Das ist doch der Weg, der zum Dreieck führt. Oho! Ich fange an, eure Buchstaben zu entziffern, geehrte Bürger des Zehnten . . .«
Ganz ruhig ging er die Allee entlang. Im Schatten der breiten blauen Blätter war es wesentlich kühler. Die Allee führte nach dem Süden. Die Sonne neigte sich bereits vom Westen nach Süden. Nach der sich abzeichnenden Sonnenbahn stellte der Gelehrte mit geübtem Blick fest:
»Die Lage unseres Standortes — die gemäßigte Zone des Zehnten.«
Das beruhigte ihn. Es war anzunehmen, daß ihm hier weder arktische Kälte noch tropische Hitze drohte. Der Morgen breitete seinen Zauber aus. Die Blumen, gleich einer schönen Einfassung den Fußweg umsäumend, spendeten Freude. Der Gelehrte verstand nicht viel von der Botanik, aber er war sich darüber im klaren, daß die launenhaften Formen der Blumen und der Blätter keine Ähnlichkeit mit denen der Erde hatten. Einige merkwürdige Bäume mit dicken fleischigen Stümpfen erinnerten ihn an Araukarien. Viereckige Muscheln im knirschenden Sand unter seinen Füßen lenkten seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie glänzten wie Gold. Er hob sie auf und betrachtete sie neugierig. Sie erinnerten ihn an die Blätter eines geologischen Atlasses. Er steckte einige große Muscheln, die ihm würdig schienen, einen Ehrenplatz in den Sammlungen des Astronomischen Hauptinstituts einzunehmen, in die Tasche.
Er hatte gar nicht bemerkt, wie er auf einen dreieckigen Platz gelangt war, jede seiner Seiten war von dem übrigen Raum durch einen niedrigen Zaun getrennt. Die Schilder mit den bekannten Schriftzeichen gaben etwas zur Kenntnis, was er nicht lesen konnte. Er blickte auf das Schild. Die welligen Linien umgaben ein Quadrat, das schwarz durchstrichen war. Er war neugierig, zu erfahren, was hinter dem Zaun war. Er blickte hinüber und prallte vor Schreck zurück.