Sie nahm die Worte kaum wahr. Es waren nur Lautfetzen ohne jeden Sinn, ohne Bedeutung.
»Madame .«
Ich möchte, dass du dich schick machst. Du wirst bestimmt begeistert sein, wenn wir dort sind. »Das muss ... ein Irrtum sein«, sagte Kelly. »Mark würde niemals .«
»Tut mir Leid.« Der Chefinspektor sah Kelly durchdringend an. »Ist alles in Ordnung, Madame?«
»Ja.« Abgesehen davon, dass soeben mein Leben zerbrochen ist.
Pierre kam angewieselt und brachte ihr einen wunderschönen gestreiften Bikini. »Chérie, du musst dich rasch umziehen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.« Er warf ihr den Bikini in die Arme.
»Vite! Vite!«
Kelly ließ ihn langsam zu Boden fallen. »Pierre?«
Verdutzt blickte er sie an. »Ja?«
»Zieh du ihn an.«
Eine Limousine brachte Kelly zu ihrem Apartment zurück. Der Direktor des Modehauses hatte ihr angeboten, dass jemand bei ihr blieb, doch Kelly hatte abgelehnt. Sie wollte allein sein. Jetzt, da sie durch die Haustür trat, sah sie Philippe Cendre, den Concierge, und einen Mann in einem Overall, die von einer Reihe von Mietern umringt waren.
»Die arme Madame Lapointe«, sagte eine der Hausbewohnerinnen. »Was für ein schrecklicher Unfall.«
Der Mann im Overall hielt zwei ausgefranste Enden einer schweren Trosse hoch. »Das war kein Unfall, Madame. Jemand hat das Sicherungsseil des Aufzugs gekappt.«
7
Um vier Uhr morgens saß Kelly in einem Sessel, starrte benommen aus dem Fenster und horchte auf das Stimmengewirr, das ihr fortwährend in den Ohren widerhallte. Kriminalpolizei . müssen mit Ihnen reden . Eiffelturm . Abschiedsbrief ... Mark ist tot ... Mark ist tot ... Mark ist tot. Wie ein schleppendes Klagelied gingen ihr diese Worte ein ums andere Mal durch den Kopf.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Marks Körper hinabstürzen, tiefer und immer tiefer ... Sie streckte die Arme aus und wollte ihn auffangen, kurz bevor er auf dem Gehsteig zerschmettert wurde. Bist du meinetwegen gestorben? Habe ich irgendetwas getan? Irgendetwas nicht getan? Habe ich irgendetwas gesagt? Irgendetwas nicht gesagt? Ich habe noch geschlafen, als du gegangen bist, Liebster, und konnte mich gar nicht von dir verabschieden, dich küssen und dir sagen, wie sehr ich dich liebe. Ich brauche dich. Ohne dich halte ich es nicht aus, dachte Kelly. Hilf mir, Mark. Hilf mir - so wie du mir immer geholfen hast. Sie ließ sich zurücksinken und dachte daran, wie es früher gewesen war, vor Mark, in diesen furchtbaren Jahren ihrer Jugend ...
Kelly war in Philadelphia geboren - als uneheliche Tochter von Ethel Hackworth, einem schwarzen Dienstmädchen, das im Hause eines Richters angestellt war, bei einer der bekanntesten Familien der Stadt. Ethel war siebzehn und wunderschön, so schön, dass Pete, der schmucke, zwanzigjährige blonde Sohn der Familie Turner, ihren Reizen verfiel. Er verführte sie, und einen Monat später stellte Ethel fest, dass sie schwanger war.
Als sie es Pete mitteilte, sagte der: »Das ... das ist ja wunderbar.« Dann stürmte er in das Arbeitszimmer seines Vaters und überbrachte ihm die schlechte Nachricht.
Richter Turner zitierte Ethel am nächsten Morgen zu sich ins Herrenzimmer und sagte: »In meinem Haus beschäftige ich keine Hure. Sie sind entlassen.«
Da sie weder Geld hatte noch eine anständige Ausbildung oder einen erlernten Beruf vorweisen konnte, arbeitete sie als Putzfrau in einer Fabrik, wo sie endlos viele Überstunden machen musste, um sich und ihre neugeborene Tochter durchzubringen. Nach fünf Jahren aber hatte Ethel so viel Geld gespart, dass sie sich ein heruntergekommenenes Holzhaus kaufen konnte, das sie renovierte und zu einer Männerpension umbaute. Sie richtete ein Wohnzimmer ein, ein Esszimmer, vier Schlafzimmer und eine Wäschekammer, in der Kelly schlief.
Fortan verkehrten immer wieder andere Männer im Haus.
»Das sind deine Onkel«, erklärte ihr Ethel. »Ärger sie nicht.«
Kelly freute sich, dass sie so eine große Familie hatte, bis sie eines Tages alt genug war, um zu begreifen, dass es sich um lauter fremde Männer handelte.
Eines Nachts, als Kelly acht Jahre alt war und in ihrer kleinen, dunklen Kammer schlief, wurde sie von einem heiseren Geflüster geweckt. »Schscht! Sei still.«
Kelly spürte, wie ihr Nachthemd hochgeschlagen wurde, und ehe sie protestieren konnte, war einer ihrer »Onkel« über ihr und hielt ihr den Mund zu. Sie wollte sich zur Wehr setzen, als er ihre Beine mit Gewalt auseinander drückte, doch er hielt sie fest. Sie spürte, wie er in sie eindrang, dann nahm sie nur noch den grässlichen Schmerz war, der sich in ihr ausbreitete. Der Mann ließ nicht von ihr ab, drang unbarmherzig in sie ein, tiefer und tiefer, rieb sie wund. Kelly spürte, wie warmes Blut aus ihr quoll. Lautlos schrie sie auf, hatte Angst, jeden Moment die Besinnung zu verlieren. Sie war gefangen wie ein Tier in der Falle, hier, in der schrecklichen Dunkelheit ihrer Kammer.
Nach einer halben Ewigkeit, so jedenfalls kam es ihr vor, lief ein Schauer durch seinen Körper, und endlich zog er sich zurück.
»Ich geh jetzt«, flüsterte er. »Wenn du deiner Mutter was davon erzählst, komm ich wieder und bring sie um.« Dann war er verschwunden.
Die nächste Woche war kaum zu ertragen. Sie litt Höllenqualen, doch trotz ihres geschundenen Leibes nahm sie sich zusammen, so gut sie konnte, bis die Schmerzen endlich nachließen. Sie wollte ihrer Mutter erzählen, was vorgefallen war, aber sie traute sich nicht. Wenn du deiner Mutter was davon erzählst, komm ich wieder und bring sie um.
Der ganze Vorfall hatte nur ein paar Minuten gedauert, aber in diesen wenigen Minuten hatte sich Kellys Leben verändert. Das einstmals unbeschwerte junge Mädchen, das davon geträumt hatte, eines Tages einen Mann und Kinder zu haben, fühlte sich jetzt schmutzig und entehrt. Sie nahm sich vor, sich nie wieder von einem Mann berühren zu lassen. Doch das war noch nicht alles.
Seit jener Nacht fürchtete sich Kelly vor der Dunkelheit.
8
Seit Kelly zehn war, musste sie Ethel bei der Arbeit in der Pension helfen. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, putzte die Toiletten, schrubbte den Küchenboden und half beim Zubereiten des Frühstücks für die Gäste. Nach der Schule kümmerte sie sich um die Wäsche, wischte die Böden, staubte ab und ging ihrer Mutter bei der Vorbereitung des Abendessens zur Hand. Ihr Leben wurde zu einem einzigen eintönigen Trott, trostlos und langweilig.
Dabei half sie ihrer Mutter gern. Auf ein Lob allerdings wartete sie vergebens. Ihre Mutter war so sehr mit ihren Gästen beschäftigt, dass sie ihrer Tochter kaum Aufmerksamkeit schenkte.
Als Kelly noch kleiner gewesen war, hatte ihr einer der Gäste Alice im Wunderland vorgelesen, und sie war begeistert davon gewesen, wie Alice sich auf wundersame Weise durch einen Kaninchenbau davonmachte. So was brauche ich auch, dachte Kelly, so einen Fluchtweg. Ich kann doch nicht mein Leben lang Toiletten putzen, Böden schrubben und anderer Leute Dreck wegräumen.
Und eines Tages fand Kelly ihren ureigenen verzauberten Kaninchenbau. Sie stellte fest, dass sie sich kraft ihrer Fantasie an jeden Ort versetzen konnte, zu dem sie hinwollte. Und sie schrieb ihre eigene Lebensgeschichte neu ...
Sie hatte einen Vater, und ihre Mutter und ihr Vater hatten die gleiche Hautfarbe. Sie wurden nie wütend, brüllten sie niemals an. Sie wohnten alle drei in einem wunderschönen Haus. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie. Ihre Mutter und ihr Vater liebten sie ...