»Es ist köstlich, Schwesterherz. Aber ich habe keinen Hunger.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang. »Möchtest du über irgendetwas reden?«
»Du merkst auch immer alles, was?« »Hat es etwas mit deiner Arbeit zu tun?«
»Ja.« Er schob den Teller weg. »Ich glaube, ich bin in Lebensgefahr.«
Lois schaute ihn erschrocken an. »Was?«
»Schwesterherz, nur eine Hand voll Menschen auf der ganzen Welt wissen, was da vor sich geht. Ich komme nächsten Montag wieder hierher und bleibe über Nacht. Am Dienstagmorgen muss ich nach Washington.«
Lois war verdutzt. »Wieso nach Washington?«
»Um über Prima zu berichten.«
Dann erklärte ihr Gary, worum es ging.
Und jetzt war Gary tot. Ich glaube, ich bin in Lebensgefahr. Ihr Bruder war nicht bei einem Unfall umgekommen. Er war ermordet worden.
Lois warf einen Blick auf ihre Uhr. Jetzt war es zu spät, um irgendetwas zu unternehmen, aber morgen würde sie ein paar Anrufe machen und dafür sorgen, dass ihr Bruder gerächt wurde. Sie wollte das zu Ende bringen, was Gary vorgehabt hatte. Mit einem Mal fühlte sich Lois wie ausgelaugt.
Nur mit Mühe konnte sie sich von der Couch erheben. Sie hatte noch nicht zu Abend gegessen, aber beim bloßen Gedanken an Essen wurde ihr übel.
Lois ging ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Sie war zu müde, um sich auszuziehen, lag nur wie benommen da, bis sie schließlich einschlief.
Lois träumte, dass sie und Gary in einem dahinrasenden Zug säßen und sämtliche Fahrgäste in dem Abteil rauchten. Es wurde immer heißer, und der Qualm brannte ihr im Hals. Hustend wachte sie auf, öffnete die Augen und blickte sich dann erschrocken um. Ihr Schlafzimmer brannte lichterloh, Flammen züngelten an den Vorhängen empor, und alles war voller Rauch. Keuchend und um Atem ringend schleppte sich Lois aus dem Bett. Sie versuchte, den Atem anzuhalten und torkelte ins Wohnzimmer. Der ganze Raum stand in Flammen und war in Qualm gehüllt. Sie wollte sich zur Tür durchschlagen, aber nach ein paar Schritten spürte sie, wie ihre Beine nachgaben, und fiel zu Boden.
Das Letzte, was Lois Reynolds wahrnahm, waren die gierigen Flammenzungen, die nach ihr leckten.
10
Kelly wurde manchmal regelrecht schwindlig, wenn sie daran dachte, wie schnell alles gegangen war. Binnen kürzester Zeit hatte sie die wichtigsten Voraussetzungen für den Modelberuf erlernt - während der Ausbildung in der Agentur brachte man ihr selbstbewusstes Auftreten bei, Haltung und wie man ein bestimmtes Image von sich vermittelt. Ein Model musste vor allem Ausstrahlung besitzen, was wiederum hieß, dass Kelly den Menschen etwas vorspielen musste, da sie sich weder schön noch begehrenswert vorkam.
Trotzdem wurde sie quasi über Nacht als sensationelle Neuentdeckung in der Modewelt gehandelt. Sie wirkte nicht nur aufregend und provozierend, sondern strahlte auch eine gewisse Unberührbarkeit aus, die die Männer herausforderte. Binnen zwei Jahren war Kelly in die Riege der Topmodels aufgestiegen. Sie warb für Produkte, die aus gut einem Dutzend verschiedener Länder stammten. Einen Großteil ihrer Zeit brachte Kelly in Paris zu, wo einige der wichtigsten Kunden ihrer Agentur ansässig waren.
Nach einer extravaganten Modenschau in New York suchte sie eines Tages vor dem Rückflug nach Paris ihre Mutter auf, die älter und verhärmter wirkte als je zuvor. Ich muss sie hier rausholen, dachte Kelly. Ich kaufe ihr ein hübsches Apartment und kümmere mich um sie.
Ihre Mutter freute sich allem Anschein nach, sie zu sehen.
»Ich bin ja froh, dass es dir gut geht, Kelly. Danke für die monatlichen Schecks.«
»Gern geschehen. Mutter, ich möchte etwas mit dir bereden. Ich habe mir alles genau überlegt. Ich möchte, dass du von hier weg .«
»Hoho, schau an, wer uns da besucht - Ihre Hoheit.« Ihr Stiefvater kam gerade herein. »Was machst du denn hier? Solltest du nicht irgendwo mit schicken Klamotten rumstolzieren?«
Ich muss ein andermal darauf zurückkommen, dachte Kelly.
Kelly musste noch einen weiteren Besuch erledigen. Sie fuhr zur öffentlichen Bibliothek, in der sie so viele herrliche Stunden verbracht hatte, und die Erinnerungen kehrten sofort zurück, als sie mit einem Stapel Zeitschriften unter dem Arm durch die Tür trat.
Mrs. Houston saß nicht an ihrem Schreibtisch. Kelly ging in den Lesesaal und sah sie strahlend wie eh und je mit einem eleganten, maßgeschneiderten Kleid in einem der Seitengänge stehen und Bücher einsortieren.
Als Mrs. Houston hörte, wie die Tür aufging, sagte sie.
»Ich komme gleich.« Dann wandte sie sich um. »Kelly!« Es klang fast wie ein Schrei. »Oh, Kelly!«
Sie liefen aufeinander zu und umarmten sich.
Mrs. Houston trat einen Schritt zurück und musterte Kelly. »Ich kann kaum glauben, dass du das bist. Was machst du hier in der Stadt?«
»Ich habe meine Mutter besucht, aber ich wollte auch Sie sehen.«
»Ich bin ja so stolz auf dich. Das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
»Mrs. Houston, können Sie sich noch daran erinnern, als ich Sie gefragt habe, wie ich Ihnen danken könnte? Sie haben gesagt, wenn Sie eines Tages mein Bild in einer Modezeitschrift sehen, wäre das für Sie der schönste Dank. Hier.«
Kelly drückte Mrs. Houston den Stapel Zeitschriften in den Arm. Es waren allerlei Ausgaben von Elle, Cosmopolitan, Mademoiselle und Vogue, und sie war bei allen auf dem Cover abgebildet.
»Großartig«. Mrs. Houston strahlte. »Ich möchte dir auch etwas zeigen.« Sie ging hinter ihren Schreibtisch und holte die gleichen Zeitschriften heraus.
Kelly war einen Moment lang sprachlos. »Womit kann ich Ihnen jemals danken? Sie haben mein Leben verändert.«
»Nein, Kelly. Du selbst hast dir ein anderes Leben gesucht. Ich habe dir lediglich einen kleinen Schubs gegeben. Und noch was, Kelly .«
»Ja?«
»Deinetwegen bin ich modebewusst geworden.«
Da Kelly großen Wert darauf legte, sich ein Privatleben zu bewahren, kam sie mit ihrem Ruhm mitunter nur schwer zurecht. Die ständige Belagerung durch die Fotografen ärgerte sie, und mit der Zeit entwickelte sie eine geradezu panische Angst davor, von Leuten angesprochen zu werden, die sie nicht kannte. Kelly genoss es, allein zu sein.
Eines Tages speiste sie zu Mittag im Restaurant Le Cinq im Hotel George V., als ein schlecht gekleideter Mann an ihr vorbeiging, dann stehen blieb und sie anstarrte. Er hatte einen fahlen, ungesund wirkenden Teint, so als verbringe er den Großteil seiner Zeit in geschlossenen Räumen. Er hatte eine Ausgabe von Elle dabei, die bei einem Foto von Kelly aufgeschlagen war.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Fremde.
Unwirsch blickte Kelly auf. »Ja?«
»Ich habe Ihr - ich habe diesen Artikel hier über Sie gelesen, und da steht, dass Sie in Philadelphia geboren sind.« Er klang jetzt völlig begeistert. »Ich bin auch da geboren, und als ich Ihr Bild sah, hatte ich das Gefühl, dass ich Sie kenne und .« »Nein«, erwiderte Kelly kühl. »Außerdem mag ich es nicht, wenn mich wildfremde Menschen belästigen.«
»Oh, tut mir Leid.« Er schluckte. »Ich wollte nicht ... Ich bin kein wildfremder Mensch. Ich meine . Ich heiße Mark Harris und arbeite bei Kingsley International. Als ich Sie hier sitzen sah, da ... da dachte ich, Sie wollen vielleicht nicht allein essen und Sie und ich könnten .«
Kelly warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie haben falsch gedacht. Und jetzt gehen Sie bitte.«
»Ich ... ich wollte Sie nicht stören.« Er stammelte jetzt.
»Es ist bloß so, dass .« Er sah ihren Gesichtsausdruck. »Ich gehe ja schon.«
Kelly blickte ihm hinterher, als er mit seiner Zeitschrift hinausging. Den bin ich los.