Athelstan grinste. »Concedo, oh Aufmerksamster unter den Coroners. Die Sache wird also um so verzwickter?«
»Natürlich.« Cranston nahm die Brotstücke vom Tisch. »Und was ist«, überlegte er, »wenn es ein Bündnis zwischen all diesen Gruppen gibt? Eine unheilige Verbindung wie zwischen Pilatus und Herodes?«
»Wenn das der Fall ist«, sagte Athelstan, »dann haben wir es mit einer Serie von komplexen Verstrickungen zu tun, die sich jeder logischen Analyse widersetzt. Die Gildemeister sind vielleicht nicht einig. Vielleicht sind sie unentschlossen, vielleicht sogar tückisch, und machen sowohl Gaunt als auch der Bauernpartei den Hof.«
»Oder, schlimmer noch«, erwog Cranston, »die Gildemeister könnten Gaunt, dem König und den Bauern den Hof machen.« Er wedelte die Patschhand. »Vielleicht ist nur einer der Gildemeister ein Verräter. Oder hat Gaunt den Mountjoy umbringen lassen, weil er der einzige Wurm an ihrer Rose war?«
Athelstan hob die Hände. »Ich stimme Euch zu, Sir John. Wie Sir Gerard ermordet wurde, ist ein Geheimnis. Wer ihn ermordet hat… nun, es könnte jeder gewesen sein. Also bleibt uns die Frage: Warum?«
»Und die haben wir schon beantwortet.« Cranston stand auf, klopfte sich mit der flachen Hand auf den Bauch und strahlte seinen Schreiber an. »Vielleicht hat Sir Gerard dem Regenten zuviel Schwierigkeiten gemacht? Eines wissen wir jedenfalls. In diesem Spiel geht es um Macht, und der Sieger wird König im Schloß und kann zusehen, wie seine Feinde vernichtet werden. Ich kann nur sagen: Wir dürfen niemandem trauen.«
»Ich glaube folgendes«, sagte Athelstan. »Da der Mord just an dem Tag geschehen ist, als Gaunt seine Allianz mit der Stadt besiegeln wollte, muß ich daraus schließen, daß Sir Gerards Tod nicht auf eine Privatfehde zurückzuführen ist, sondern diese Allianz zerstören und die Saat der Zwietracht und des Mißtrauens säen soll. In diesem Fall…«
»In diesem Fall - was?«
»In diesem Fall, teurer Coroner, wird es, ehe wir beide sehr viel älter sind, noch einen Mord geben.«
Cranston fluchte leise, fegte die letzten Brotreste vom Tisch und schaute zu, wie Gog und Magog langsam herankamen, um zu sehen, was ihr Herr ihnen da anbot. Die Glocken von St. Mary Le Bow begannen zu läuten. Sir John blickte zum Himmel; es wurde dunkler.
»Komm, Bruder. Wir sind zum Bankett des Regenten im Rathaus eingeladen.«
»Sir John, ich sollte in meine Pfarrei zurück.«
Cranston grinste. »Bei den Zitzen des Teufels! Der Regent hat dich eingeladen, und du mußt hin!«
Cranston ging ins Haus und brüllte nach Boscombe. Athelstan wusch sich an einer Wasserschüssel in der Spülküche. Unterdessen stieg Sir John in seine Kammer hinauf, kleidete sich in ein Gewand aus braunrotem Sarsenett mit goldenen Tressen und wechselte seine Stiefel gegen ein Paar höfischere, prächtigere. Als er in die Küche kam, glänzte sein rotes Gesicht, und er duftete süß wie eine Rose von dem Balsam, mit dem er sich Hände und Wangen eingerieben hatte.
»Sir John, Ihr seht vom Scheitel bis zur Sohle aus wie der Lord Coroner.« Athelstan blickte an seiner staubigen Kutte hinunter. »Ich fürchte, ich habe nichts Sauberes anzuziehen.«
»Du siehst aus wie das, was du bist«, gab Cranston zurück und klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Wie ein armer Priester, ein Mann Gottes, ein Diener Christi. Glaub mir, Athelstan, du kannst einen Hundeköttel in ein Stück Brokat wickeln, aber ein Hundeköttel bleibt es trotzdem.«
Und mit diesem kernigen Stück hausgemachter Weisheit wandte Cranston sich ab, brüllte den Mägden etwas zu, gab Boscombe Anweisungen wegen der Hunde, holte seinen wunderbaren Weinschlauch und marschierte den Korridor hinunter. Athelstan eilte ihm nach, und Sir John öffnete die Haustür.
»Oh, hau ab!« brüllte er den rothaarigen, einbeinigen Bettler Leif an, der am Türrahmen lehnte, das schäbige Bettelbrett um den Hals gehängt. Leif sah aus, als wolle er im nächsten Augenblick vor Erschöpfung und Hunger zusammenbrechen, aber Athelstan wußte, daß er ein vollendeter Schauspieler war, der ebenso herzhaft aß und trank wie Sir John.
»Oh«, winselte Leif, »mein Bauch ist leer.«
»Dann paßt er ja zu deinem Kopf!«
»Sir John, eine Brotkrume, einen Becher Wasser?«
»Den Teufel!« brüllte Cranston. »Du hast schon mein Abendessen aufgefressen! Du bist ein gieriger, magerer Gauner, Leif.«
»Sir John, ich bin ein armer Mann.«
»Ach, geh schon hinein«, knurrte Cranston. »Geh zu Boscombe; er ist mein neuer Dienstmann. Nein, ich hab's mir anders überlegt. Boscombe!«
Der kleine Kerl erschien, lautlos wie ein Schatten.
»Das ist Leif«, sagte Cranston. »Er wird mich mit seiner Freßgier noch um Haus und Hof bringen. Gib ihm Wein - aber nicht von meinem Roten. Brot ist da und Suppe, und Lady Maude hat eine Pastete in der Speisekammer.«
»Oh, ich danke Euch, Sir John.« Behende wie ein Eichhörnchen hoppelte Leif in den Hausflur.
»Ach, übrigens…« Cranston lächelte boshaft. »Leif, mein Freund, geh in den Garten. Ich habe zwei neue Gäste, die dich gern kennenlernen wollen.« Er schlug die Tür hinter sich zu und ging leise lachend die Cheapside hinunter.
»Sir John, war das vernünftig?«
»Oh, mach dir nur keine Sorgen um Leif, Athelstan«, rief Cranston über die Schulter. »Der ist flink wie ein Floh und kann schneller rennen als du oder ich. Und hat es auch schon oft getan«, fügte er hinzu.
Abgesehen von den Müllkarren, den Straßenkehrern und vereinzelten, safrangelb gekleideten Huren, die sich an den Wirtshaustüren herumtrieben, lag die Cheapside jetzt verlassen da. Sowie es erst dunkel war, würden sie und das übrige Stadtgesindel, lärmende Burschen und das, was Cranston als »das Nachtgelichter« bezeichnete, ihre Anwesenheit spürbar machen.
Als sie am Rathaus ankamen, war das ganze Gebäude von königlichen Bogenschützen und Gardesoldaten umstellt. Cranston schrie seinen Namen und drängte sich an ihnen vorbei, die Treppe hinauf und in den Audienzsaal, wo Lord Adam Clifford sie erwartete.
Das Gesicht des jungen Höflings verzog sich zu einem aufrichtigen Lächeln. »Sir John, Bruder Athelstan.« Er drückte ihnen warm die Hand. »Ihr seid mir höchst willkommen.«
Cranston warf einen Blick auf die schlichte Lederjacke des jungen Edelmannes, die wollene Hose und die hochhackigen Lederreitstiefel.
»Aber Mylord, kommt Ihr denn nicht auch zum Bankett?«
Der junge Mann zog eine Grimasse. »Der Lord Regent hat andere Aufgaben für mich.«
Athelstan sah am Blick des jungen Mannes, daß dieser sich nicht gern wegschicken ließ.
»Ihr seid der letzte Gast, Sir John«, flüsterte er drängend. »Gleich wird der König kommen, und dann beginnt das Bankett. Beeilt Euch lieber!«
Clifford übergab sie einem livrierten Diener, der sie die Treppe hinauf und durch mehrere Korridore führte, die von flackernden Fackeln erhellt waren. Gleichwohl spürte Athelstan allenthalben Unbehagen: Überall sah man Bogenschützen, entweder mit dem weißen Hirschen, dem persönlichen Wappen des Königs, oder mit Gaunts drohendem Löwen auf ihrer Livree.
»Lord Adam scheint mir ein kluger Kopf zu sein«, bemerkte Athelstan.
»Ein guter Apfel in einem Faß voll fauler«, flüsterte Cranston aus dem Mundwinkel. »Er kommt aus dem Norden und hat seine Geschicke mit Gaunts Stern verbunden. Ich hoffe, daß das klug war. Wenn der Regent stürzt, stürzt er mit.«
Endlich erreichten sie den Rosensaal, die luxuriöse, wenn auch kleine private Banketthalle des Rathauses. Der Diener führte sie hinein, und Athelstan und Cranston mußten blinzeln, als ihnen Hunderte von Kerzen entgegenfunkelten. Die anderen Gäste saßen bereits; sie achteten kaum auf die Neuankömmlinge und tuschelten miteinander, während ein Mundschenk Cranston und Athelstan zu ihren Plätzen führte.