»Nichts!« hauchte Marshall.
Flinker als der Rest drängte sich Cranston nach vorn und hob das Stück gelbes Pergament auf, das auf dem Boden der Truhe lag.
»›Diese Steuer wurde eingetrieben«, las er vor, »›von der Großen Gemeinschaft des Reiches. Gezeichnet: Ira Dei.‹«
»Das ist unerträglich!« schrie Denny. »Mylord Gaunt, wir sind betrogen worden!«
Aber der Regent ließ sich nur totenbleich auf den Chorstuhl fallen, starrte ins Dunkel und bewegte stumm die Lippen. Cranston, der John von Gaunt seit Kindertagen kannte, hatte ihn noch nie so verängstigt und ratlos gesehen.
»Das ist Teufelswerk«, murmelte Gaunt.
Niemand achtete auf seine Worte; die Gildemeister schrien und fluchten durcheinander. Clifford stand mit offenem Maul da und starrte in die leere Truhe. Cranston packte ihn grob an der Schulter.
»Um Himmels willen, Mann!« zischte er. »Laßt die Kapelle räumen. Das nützt doch alles nichts.«
Clifford fuhr aus seinen Gedanken hoch und klatschte laut in die Hände. »Mylord Gaunt muß über diese Sache nachdenken!« rief er in das Durcheinander.
»Über welche Sache?« kreischte Sudbury. »Mylord Gaunt streckt die Hand aus, und wir ergreifen sie. Er redet von Freundschaft zwischen ihm und der Stadt -und jetzt sind zwei von uns tot. Das Gold, das wir hier hinterlegt haben, ist gestohlen worden, und der Missetäter Ira Dei mordet und stiehlt nicht nur, sondern macht uns auch noch alle zum Gespött. Was sollen wir unseren Gilden berichten, he? Wie sollen wir unseren Brüdern beibringen, daß Tausende Pfund Sterling verschwunden sind?«
»Mylord Gaunt wird etwas unternehmen«, antwortete Cranston. »Er ist der Regent und handelt im Namen der Krone. Will irgend jemand etwa Hochverrat begehen und behaupten, Mylord Gaunt sei für all das verantwortlich?« Er starrte Bürgermeister Goodman an, der mit verdatterter Miene am Altar lehnte.
»Räumt jetzt die Kapelle. Mylord Bürgermeister, Ihr solltet noch bleiben.«
Endlich hatte Cranstons Autorität sich durchgesetzt, und die Gildemeister wanderten murrend und sich noch ein paarmal umschauend hinaus. Gaunt wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, dann hob er das Gesicht.
»Sir John, Bruder Athelstan, ich danke Euch.« Er erhob sich. »Aber was sollen wir jetzt tun? Die Gildemeister haben recht. Jeder von ihnen hat tausend Pfund Sterling verloren. Mountjoy und Fitzroy sind tot, und Ira Dei tanzt um mich herum, als wäre ich ein verfluchter Maibaum.« Er gestikulierte wild. Athelstan und Cranston setzten sich, Goodman und Lord Adam Clifford ebenfalls. Gaunt rieb sich die Augen, dann sah er Cranston an.
»Was schlagt Ihr vor, Mylord Coroner?«
Cranston schüttelte den Kopf. Athelstan entging nicht, daß ein Funke von Ärger im Auge des Regenten aufsprühte. Sir John würde rasch etwas unternehmen müssen, wenn er nicht für die Wut im Herzen des Regenten den Sündenbock spielen wollte.
»Euer Gnaden.« Athelstan stand auf. Er bemühte sich, seine Müdigkeit abzuschütteln und das Verlangen nach seiner eigenen, stillen Kirche in Southwark niederzukämpfen.
»Euer Gnaden«, wiederholte er, »zwei Männer wurden niederträchtig ermordet, aber alle Mörder begehen Fehler, und wir müssen die Ereignisse dieses unheilvollen Tages noch überdenken. Wie jedoch das Gold aus einer Truhe verschwinden kann, die nur mit sechs einzelnen Schlüsseln zu öffnen ist, bleibt rätselhaft. Ich habe dazu mehrere Fragen. Erstens: Wer hat die Truhe angefertigt?«
»Peter Sturmey«, sagte Clifford, »ein vertrauenswürdiger Schlosser in Diensten der Krone. Ich bezweifle sehr, daß er in dieser Sache zum Verräter werden würde. Sein eigener Sohn ist ein Schatzbeamter, der noch vor kurzem in Colchester beim Eintreiben von Steuern in ein Handgemenge geriet.«
Athelstan hob die Hand. »Was ist mit der Truhe? Mylord Regent, dürfen wir sie vielleicht untersuchen?«
Gaunt grunzte zustimmend. Goodman schaute zu, als Athelstan, unterstützt von Cranston und Clifford, die Truhe umdrehte, die Holzwände abklopfte und die Schlösser betrachtete.
Cranston schüttelte den Kopf. »Eine solide, anständige Kiste«, sagte er leise und richtete sich auf. »Geheimfächer hat sie keine.« Er studierte Beschläge und Schlösser. »Daran hat sich niemand zu schaffen gemacht.«
Athelstan klopfte sich den Staub von der Kutte. »Damit wären wir bei meiner dritten Frage. Könnte es einen Generalschlüssel geben?«
»Unmöglich!« zischte Clifford. »Jedes Schloß ist einzigartig.« Er zog zwei der Schlüssel hervor, die die Gildemeister zurückgelassen hatten. »Ich bin kein Schlosser, Bruder, aber seht sie Euch sorgfältig an. Schaut!« Er hielt die beiden Schlüssel gegen das Kerzenlicht. »Seht Ihr die Zacken und Kerben in den Schlüsseln? Jeder ist deutlich anders als die anderen. Mylord Gaunt hat darauf bestanden, daß das so ist.«
Athelstan rieb sich die Lippen, um seine Bestürzung zu verbergen.
»Eure vierte Frage liegt auf der Hand«, sagte Clifford. »Hat Sturmey von den Schlüsseln Duplikate hergestellt? Aber dann«, fuhr er hastig fort, als er den Regent den Kopf schütteln sah, »wäre Sturmey ein Verräter, der fröhlich seine Schlüssel weitergibt, damit jemand anderes die Schlösser öffnen kann.«
»Bei den Zitzen des Satans!« murmelte Cranston. »Wie konnte es geschehen? War die Kapelle bewacht?«
Goodman zuckte die Achseln. »Nein, warum auch? Die Truhe war schwer durch das Gold, und bei sechs Schlössern…« Er ließ den Satz unvollendet.
»Wer hat das alles geplant?« fragte Athelstan. »Ich meine, die Goldbarren, die Truhe…«
Clifford verzog das Gesicht und sah Goodman an. »Der Gedanke, das Gold hier in eine Truhe zu legen, stammt von Mylord Gaunt«, sagte er. »Aber ich selbst und Sir Gerard Mountjoy haben Sturmey ausgesucht.« Er lächelte. »Darauf haben die Gildemeister bestanden.«
»Weil sie mir nicht trauten!« fauchte Gaunt. »Ich hatte nichts zu tun mit dem Bau der Truhe, der Herstellung der Schlösser oder der Gestaltung der Schlüssel. Ich und die Gildemeister haben entschieden, das alles lieber unseren werten Beamten zu überlassen. Sie haben Truhe und Schlüssel heute morgen geradewegs aus Sturmeys Werkstatt hergebracht.«
»Und bevor Ihr fragt«, warf Lord Adam ein, »keiner von ihnen hatte jemals alle sechs Schlüssel auf einmal in seinem Besitz. Drei hat der Bürgermeister gekauft, Mountjoy den Rest. Fitzroy und Sudbury waren Zeugen der Transaktion, und Stadtbüttel haben die Truhe hergetragen.«
Cranston spähte mit schmalen Augen ins Dunkel, wie er es immer tat, wenn er in Gedanken versunken war.
»Sir John!« rief Athelstan. »Was ist denn?«
Cranston schmatzte - ein sicheres Anzeichen dafür, daß er trotz der späten Stunde allmählich seinen Rotwein vermißte.
»Sturmey«, sagte er. »Der Name Sturmey sagt mir etwas. Wie kommt das, hm? Warum sollte ein angesehener Schlosser, dessen Dienste die großen und vornehmen Herren in Anspruch nehmen, in meiner Erinnerung eine Saite erklingen lassen?«
Athelstan grinste. Cranstons Gedächtnis war wunderbar. Er kannte die Gauner von London beim Namen und die meisten auch von Ansehen, und sogar im dichten Treiben der Cheapside konnte er Taschendieben und Beutelschneidern seine Warnung zubrüllen.
»Woran erinnert Euch Sturmeys Name denn?« wollte Gaunt sofort wissen.
Der Coroner schüttelte den Kopf. »Das fallt mir noch ein.« Er verbeugte sich. »Mylord Regent, wenn Ihr mich und meinen Schreiber jetzt entschuldigen wollt - wir müssen diesen Schlosser unbedingt noch heute abend besuchen. Wo wohnt er?«
»In der Lawrence Lane, Ecke Mercery«, antwortete Clifford.
Cranston grinste Athelstan an, der ihn erschöpft und wütend anfunkelte. »Dann wollen wir dem Meister Schlosser in der Lawrence Ecke Mercery einen Besuch abstatten und ihm ein paar Fragen stellen, wie?« Noch einmal verneigte er sich vor dem Regenten. Gaunt wandte den Blick ab. Cranston zuckte die Achseln und verließ die Kapelle, gefolgt von einem niedergeschlagenen Athelstan.