»Und Sturmeys Sohn?«
»Der ist auch nicht da«, sagten Magd und Lehrling im Chor. »Er ist in York. In wichtigen Geschäften des Königs.«
Cranston nickte, als er die beiden feierlichen Mienen sah.
»Hört mal«, sagte er, »wir können das nicht hier erörtern. Junge, schläfst du in der Werkstatt?«
»Aye.«
»Dann laß uns da hineingehen.«
Der Junge blinzelte und schaute die Magd an; diese nickte.
»Dann kommt«, sagte Perrot. »Aber Ihr dürft nichts anfassen, sonst verprügelt mich der Meister.«
Er führte sie in einen Raum, der am Gang lag, zündete ein paar Kerzen an und zog zwei Schemel für seine unerwarteten Besucher heran. Athelstan nahm Platz und schaute sich um. Noch nie hatte er so viele Schlüssel gesehen. Sie hingen bündelweise an der Wand, dazu Metallstücke, Gußformen und Zangen. An der Wand sah er eine kleine Schmiedeesse. Es roch nach verbranntem Holz und Holzkohle, und alles war von feinem Staub bedeckt. Er schaute unter einen Tisch und sah das Bett des Lehrlings: eine Strohmatratze, ein Kissen, eine Wolldecke und einen ziemlich mitgenommenen hölzernen Reitersmann, vielleicht das Lieblingsspielzeug des Jungen.
»Möchtet Ihr Wein?« fragte die Magd und bemühte sich, älter zu erscheinen, als sie war.
»Nein, nein.« Athelstan lächelte. »Sir John rührt niemals Wein an - nicht wahr, Mylord Coroner?«
»Nein«, antwortete Cranston barsch und schaute Athelstan mit schmalen Augen an. Dann richtete er sich auf. »Ich gebe ein gutes Beispiel.«
Der Junge musterte den riesenhaften Coroner unter gesenkten Lidern und schien nur halb überzeugt.
»Wo ist dein Herr hingegangen?« fragte Cranston.
»Ich weiß nicht. Er ging einfach hinaus.«
»Und wie war er?«
»Sehr aufgeregt«, berichtete der Lehrjunge.
»Weshalb?«
»Oh, wegen der Truhe für die hohen Lords und wegen der Schlüssel.«
»Sag mal«, sagte Cranston, beugte sich vor und versuchte, den Weinschlauch unter seinem Mantel zu verbergen. »Hast du deinem Meister geholfen, die Truhe zu machen, die Schlösser und die Schlüssel?«
»Oh ja.«
»Und wie viele Schlüssel hat er gemacht?«
»Sechs.«
»Nicht mehr - für den Fall, daß mal einer verlorengeht?«
»Oh nein. Mein Meister hat gesagt, das sei verboten.«
»War denn Besuch in der Werkstatt?« fragte Athelstan. »Jemand Geheimnisvolles in Mantel und Kapuze vielleicht?«
»Nein.« Der Junge lachte. »Weshalb?«
Sein Blick war flackernd, und er schlug die Augen nieder. Du verbirgst uns etwas, dachte Athelstan, aber es hat nichts mit dieser Sache zu tun.
»Und wer von den hohen Herren war hier?«
»Na, gestern kamen sie alle«, sagte Perrot. »Mit ihren Mänteln, Stiefeln und Biberpelzmützen war das ganze Haus voll. Sie mußten Truhe und Schlüssel zum Rathaus bringen. Draußen waren Soldaten mit einem Karren.«
»Ja«, fuhr Athelstan fort, »aber bevor dein Meister die Schlüssel und die Schlösser fertig hatte, hat ihn da einer der hohen Herren allein besucht?«
»Ich glaube nicht«, antwortete der Junge. »Ich wohne und schlafe hier. Der Meister bringt seine Besucher immer her, wenn er nicht gerade im Garten arbeitet. Da geht er gern allein hin. Er sagt, er liebt die Abwechslung.«
»Aber er hatte Besuch?« Athelstan blieb hartnäckig.
»Zwei große, dicke Kerle«, antwortete der Junge. »Der Bürgermeister und der Sheriff. Die kamen in den letzten Wochen ein paarmal zusammen und wollten sehen, ob mein Meister seine Arbeit tat.«
»Sonst niemand?«
»Nein, Pater.«
Athelstan sah die junge Magd an, die neben dem Jungen stand. »Und ihr habt beide nichts Geheimnisvolles oder Ungewöhnliches gesehen?«
Sie schüttelten den Kopf.
»Was ist aus den Gußformen geworden?« Cranston scharrte mit den Füßen. »In denen die Schlüssel gegossen wurden.«
»Die wurden vernichtet«, erklärte der Junge stolz. »Als die hohen Herren kamen, um Truhe und Schlüssel abzuholen, standen sie da und schauten zu, wie ich sie mit dem Hammer zerschlug.«
Cranston schaute Athelstan an, und der schüttelte den Kopf.
Der Coroner erhob sich schwerfällig, reckte sich und gähnte. Dann fischte er zwei Pennies aus der Tasche und gab sie dem Jungen und dem Mächen.
»Sehr gut«, brummte er. »Aber wenn euer Meister zurückkommt, dann sagt ihm, er soll zu Sir John Cranstons Haus in der Cheapside kommen. Ich muß mit ihm sprechen.«
Die Magd und der Lehrling nickten.
Cranston und Athelstan gingen wieder hinaus in die Lawrence Lane und hinunter zur Ecke Mercery.
»Ihr wißt, daß er niemals zurückkommen wird, Sir John?«
Cranston blies die Wangen auf. »Aye. Morgen werde ich die Behörden anweisen, unter den Töten, die in der Stadt aufgefunden werden, nach ihm zu suchen.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Bruder, du kannst gern heute bei mir übernachten.«
Athelstan schaute hinauf zum sternklaren Himmel. »Danke, Sir John, aber ich muß zurück.«
Er sah Cranston nach, der ihm einen Abschiedsgruß zubrüllte, wie ein mächtiger Bär die Cheapside hinaufschlurfte und sich plötzlich umdrehte.
»Bruder, ich begleite dich noch zur Brücke!«
»Nein, nein, auf keinen Fall, Sir John. Mir passiert schon nichts. Wer wird einen armen Ordensbruder überfallen?«
Cranston sah den Priester die Mercery überqueren und die Budge Row hinuntergehen.
»Aye!« murrte er. »Wer wird einen armen Ordensbruder überfallen? Die Stadt ist voll von Mistkerlen, die so etwas tun!«
Er wartete, bis Athelstan außer Sicht war, und folgte ihm dann durch die Budge Row, den Walbrook hinunter in die Ropery und zur Bridge Street. Am anderen Ende standen die Wachen in einem Lichtkreis an der Zufahrt zur Brücke; sie hatten ihre Fackeln auf Stangen gesteckt. Cranston hörte ihre Stimmen, als sie den Ordensbruder befragten. Einer lachte, und sie ließen Athelstan durch. Der Coroner seufzte erleichtert, aber er spitzte noch einmal die Ohren, als er hinter sich leise Schritte hörte.
»Also, ihr Nachtvögel«, knurrte er über die Schulter, »ich bin Old John, der Coroner der Stadt. Wenn ihr euch nicht verpißt, hänge ich euch eure Eier um den Hals.« Als er sich umdrehte, war die Straße leer. Breitbeinig stellte sich Cranston über die Gosse, um sich zu erleichtern, und als er beendet hatte, was er sein »devoir« nannte, schloß er den Hosenlatz und schmatzte. Er schlug das Kreuz und nahm einen großzügigen Schluck aus seinem wunderbaren Weinschlauch. Dann fielen ihm die beiden Hunde Gog und Magog ein, und er fragte sich, was Lady Maude wohl von ihnen halten würde. Er stöhnte und beschloß, daß ein zweiter großzügiger Schluck nicht schaden könne.
*
Athelstan saß an seinem Tisch im kleinen Pfarrhaus gegenüber der Kirche von St. Erconwald in Southwark. Bei seiner Rückkehr hatte er alles in guter Ordnung gefunden. Die Kirchtür war verschlossen, und jemand hatte einen kleinen Topf Honig in eine Mauernische gestellt - offenbar ein Geschenk von einem seiner Pfarrkinder. Sein altes Pferd Philomel lag auf der Seite und atmete schwer durch geblähte Nüstern, als träumte es von seiner früheren Glorie als vollblütiges Schlachtroß in den Kriegen des alten Königs. Athelstan blieb eine Weile in der Stalltür stehen und redete mit ihm, aber der alte Gaul schnarchte weiter, und der Bruder setzte seinen Rundgang über das kleine Kirchengelände fort. In seinem Garten war, soweit er sehen konnte, alles in Ordnung. Bonaventura, der große Mauser, dieser einäugige Prinz der Gassen, war offenbar unterwegs zu nächtlichem Liebeswerben oder auf der Jagd.
Jetzt schaute sich Athelstan in der kärglichen Küche um. Die Wände waren zum Schutz vor den Fliegen frisch gekälkt. Er schloß die Augen und roch den Duft der Kräuter, die mit den frischen grünen Bingen auf dem Boden verstreut lagen. Dann warf er einen Blick auf den Kessel über dem Feuer. Er erhob sich halb, um zu sehen, ob die Hafergrütze, die er kochte, nicht zu dick oder zu klumpig wurde. Seufzend ging er in die Speisekammer und holte einen Krug Milch. Sie roch noch frisch, und so goß er sie in den Kessel und rührte die Grütze sorgfaltig um, ganz so, wie Benedicta es ihm eingeschärft hatte.