»Wenn ich doch kochen könnte«, murmelte er.
Einmal hatte er Cranston zum Frühstück bewirtet, und der Coroner hatte geschworen, daß Athelstans Hafergrütze, wenn man sie mit einem Katapult schleuderte, jede Stadtmauer einreißen könnte. Er trug den Krug zurück in die Speisekammer, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und trat an seinen Tisch, der mit Pergamenten übersät war. Jedes Fetzchen Pergament war mit den Einzelheiten eines Mordes beschrieben.
»Was haben wir denn hier?« fragte Athelstan spielerisch. »Wie hat Rosamund Ingham Sir Johns Freund Sir Oliver getötet? Keine Spuren von Gewalt. Kein Hinweis auf Gift.« Er rieb sich die Wange. »Wurde der Mann überhaupt ermordet? Oder war Cranston nur wütend, weil er mitansehen mußte, wie sein alter Freund zum Hahnrei gemacht wurde?«
Aber nein, dachte er, trotz seines buschigen weißen Schnurrbarts, des roten Gesichts, des mächtigen Glatzkopfes und des noch größeren Bauches war Cranston schlau und verschlagen wie eine Schlange. Sir John hatte einen Riecher für Missetaten; wenn er glaubte, daß ein Verbrechen begangen worden war, dann hatte er meistens recht.
Athelstan nahm ein anderes Stück Pergament zur Hand und studierte seine Skizze vom Rathausgarten, wo Mountjoy ermordet worden war. »Wie um alles in der Welt …?‹‹ murmelte er. Auf der einen Seite befand sich der hohe Spalierzaun, an dem der Sheriff gelehnt hatte, zu seiner Linken eine kahle Mauer, zur Rechten der von den Hunden bewachte Gartenzaun und vor ihm der Holzzaun des Ganges zwischen Rathaus und Küche. Wie hatte der Täter in einen derart umschlossenen Raum eindringen und den stämmigen Mountjoy erstechen können, ohne daß der Sheriff oder seine furchterregenden Hunde Krach geschlagen hatten?
Und schließlich war da noch Fitzroy, getötet von unsichtbarer Hand. Wer konnte Gift verabreichen, ohne zu offenbaren, wie? Wer war dieser Ira Dei? Wer von diesen mächtigen Politikern war der Verräter?
Athelstan schüttelte den Kopf und wandte sich wieder den Rechnungsbüchern seiner Gemeinde zu. Er war müde, aber nach seiner Rückkehr aus der Stadt hatte er nur ein paar Stunden geschlafen, bevor er aufgestanden war und oben in seiner kleinen Schlafkammer bei Kerzenlicht seine Gebete verrichtet hatte; dann hatte er sich gewaschen und angekleidet. Er zog die Rechnungsbücher herüber. Er hatte Mord, Intrigen und Geheimnisse satt, und die Bücher mußten abgeschlossen werden, bevor er an St. Michaelis mit dem Gemeinderat zusammenkam.
Athelstan nagte an seinem Federkiel. Der Machtkampf in seinem kleinen Gemeinderat tobte genauso wild wie der der Gildeherren. Watkin, der Mistsammler, Mugwort, der Glöckner, Tab, der Kesselflicker, der Maler Huddle, Ursula, die Schweinehirtin, Cecily, die Kurtisane, und Tiptoe, der Schankbursche aus der Taverne zum Gescheckten, wehrten immer noch eine erbitterte Attacke ab, die von Pike, dem Grabenbauer angeführt wurde. Auf der Seite des letzteren standen Jacob Arveid, ein freundlich blickender Deutscher mit einer hübschen Frau und einer Schar von Kindern, Clement aus der Cock Lane, die Flamin Pemel und Ranulf, der Rattenlanger. Athelstan und die Witwe Benedicta bemühten sich, währenddessen den Frieden zu erhalten.
Benedicta … da stand sie vor seinem geistigen Auge; ihr kohlschwarzes Haar umrahmte ein glattes, olivfarbenes Antlitz, das dem Maler Huddle immer als Modell für die Jungfrau Maria diente.
Athelstan starrte in die hungrigen Flammen des Feuers und dachte an Pater Pauls Warnung: »Vergiß niemals: Nicht das körperliche Verlangen nach einem Weibe wird dich heimsuchen, sondern die blanke, leere Einsamkeit, der bittersüße Geschmack der Sehnsucht nach jemandem, den du niemals besitzen kannst.« Er zuckte zusammen, als eine dunkle Gestalt zum Fenster hereinschlüpfte.
»Ah, guten Morgen, Bonaventura, mein treuestes Pfarrkind.«
Der große Kater tappte leise zu seinem Herrn und warf hungrige Blicke auf die Hafergrütze, die über dem Feuer blubberte. Athelstan stand auf und holte ihm ein Schäfchen Milch aus der Speisekammer. Der Kater schleckte sie zierlich auf und machte es sich dann vor dem Feuer gemütlich, während sein Herr sich weiter über seine geplagten Pfarrkinder Gedanken machte. Er brauchte Frieden im Gemeinderat, vor allem, wenn er Watkins Töchter und den Sohn von Pike, dem Grabenbauer, trauen sollte.
»Oh Gott!« sagte er zu dem inzwischen dösenden Bonaventura. »Das wird sein, als fahre der Fuchs unter die Hühner!«
Bonaventura bewegte träge den Kopf; das eine gesunde bernsteingelbe Auge blickte seinen Herrn voller Mitgefühl an. Athelstan zog die Kontobücher näher zu sich heran. Er fragte sich, ob die Frau mit der besessenen Stieftochter noch einmal gekommen war, und ihn schauderte bei dem Gedanken, was ihn dort erwarten mochte. Er hustete, tauchte den Federkiel ins Tintenfaß und begann, die Spalten auszufüllen; er trug ein, was er für die Ausschmückung der Kirche ausgegeben hatte, nachdem der Altarraum mit neuen Platten ausgelegt worden war.
- die Zehn Gebote ausgebessert 3 s
- den Pontius Pilatus gefirnißt und einen neuen Vorderzahn eingesetzt 5d
- den Himmel erneuert, die Sternbilder berichtigt & den Mond geputzt 20s
- den Sohn des Tobias gesäubert 4s 6d
- die Flammen der Hölle aufgehellt, dem Teufel ein neues linkes Horn gemacht & den Schwanz gereinigt 3s
- Ausgaben für die Verdammten 2s 6d
- dem Jonas eine neues Hemd gemalt & den Rachen des Wales entsprechend vergrößert 10s 6d
- für Adam und Eva neue Feigenblätter gemacht 15s
Athelstan betrachtete seine Liste und lächelte. Gerade wollte er weiterschreiben, als es plötzlich leise an der Tür klopfte. Er stand auf, öffnete und schaute hinaus. Es war die Zeit der Schlaflosen, kurz vor dem Morgengrauen: Der Himmel wurde allmählich hell, und die Schatten begannen zu verschwinden.
»Wer ist da?« rief er und schaute sich um. Für Kinderstreiche war es noch zu früh. »Wer ist da?« wiederholte Athelstan. Nur der Wind, der an einem losen Fensterladen an der Kirche rüttelte, störte die Stille. Athelstans Nackenhaare sträubten sich. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Er starrte auf den Weg neben der Kirche. War es irgendein Gauner? Ein Betrunkener aus den Bordellen von Southwark? Plötzlich sah er, daß die kleine Pforte zur Kirche halb offen stand. Er packte den Knüppel, den Cranston ihm gegeben hatte, und ging darauf zu.
»Bruder Athelstan!«
Die Stimme schien hinter der Kirche hervorzukommen, und wachsam ging der Ordensbruder um die Ecke, gefolgt von einem noch neugierigeren Bonaventura. Wieder rief die Stimme seinen Namen, und Athelstan spähte über die Grabsteine hinweg.
»Wer ist da?« rief er erbost. »Hier ist kein Spielplatz, sondern ein Gotteshaus und ein Gottesacker.«
»Dreh dich um, Bruder Athelstan!«
»Warum sollte ich?«
Ein Armbrustbolzen schlug neben seinem Kopf in die Kirchenmauer.
»Du hast mich überzeugt«, rief Athelstan und drehte sich um; er schloß die Augen und ballte die Faust. »Was willst du?«
»Ich bringe eine Botschaft vom Zorn Gottes. Du bist ein Ordensmann und ein Priester des Volkes. Was machst du dich gemein mit den fetten Lords der Erde?«
»Wenn du der Zorn Gottes bist«, spie Athelstan, »dann bin ich Seine Gerechtigkeit!«
»Hüte dich vor Seinem Zorn«, sagte die Stimme klar und deutlich.
Athelstan schaute Bonaventura an, dem dieses neue Spiel zu gefallen schien.
»Cranston hat recht«, flüsterte er ihm zu. »Du taugst wirklich zu gar nichts.«
»Hüte dich«, wiederholte die Stimme.
Endlich brach sich Athelstans feuriges Temperament Bahn. »Ach, mach doch, daß du wegkommst!« rief er, stapfte den Weg an der Kirche entlang zurück zu seinem Haus und schlug die Tür dröhnend hinter sich zu.