»Bei den Zähnen der Hölle!« schnaufte Cranston. »Das ist des Teufels Küche!«
Sie mußten einen Augenblick haltmachen, weil eine Schar verdrossener Büttel versuchte, eine Legion von Katzen und streunenden Hunden zu vertreiben, die sich um einen Marktstand versammelt hatten, wo Innereien feilgeboten wurden. Ab und zu warf die alte Frau hinter dem Stand faulige, schmutzige Fleischbrocken weg, was den Appetit der Streuner nur noch mehr anregte und der alten Vettel die Verwünschungen und Flüche ihrer Händlerkollegen eintrug. Athelstan führte Philomel am Zügel durch das Getriebe und lächelte Cecily zu, die auf den Stufen vor dem Marktkreuz saß und ernst auf einen jungen Laffen in liederlicher Kleidung und fleckiger Hose einredete. Sie winkte Athelstan zu und bedachte Cranston mit einem verführerischen Gurren; dieser wandte sich grunzend ab. Plötzlich schoß der Arm des Coroners vor und packte einen zerlumpten, kahlköpfigen kleinen Mann, der sich mit einem Schoßhund im Arm durch die Menge drückte. Während Philomel Athelstan um mehr Brunnenkresse anbettelte, sah der Ordensbruder erstaunt, wie der kräftige Coroner den kleinen Mann am Schlafittchen packte und samt Schoßhund in die Höhe hob.
»Ja, ja, wenn das nicht der alte Peterkin ist!« Cranston schüttelte den frettchengesichtigen Bettler. »Peterkin, der alte Hundefänger. Du rotznasiger kleiner Mistkerl! Was treibst du hier?«
»Gar nichts, Sir John. Ich habe diesen Hund gefunden und suche seinen Besitzer.«
Cranston schrie nach einem Büttel, und der triefäugige Beamte kam hastig heran.
»Ich bin Sir John Cranston, der Coroner. Und das hier« - er schob dem Büttel Peterkin und den Schoßhund in die Arme - »ist ein kleiner Scheißer, der durch die Stadt schleicht, einer Lady den Schoßhund klaut und ihn dann gegen Belohnung zurückbringt. Kümmere dich um ihn!«
Cranston ließ den Büttel und Peterkin ohne ein weiteres Wort stehen und zwinkerte Athelstan zu; sie bogen um die Ecke und zogen die Hauptstraße zur London Bridge hinunter.
Stock und Pranger zu beiden Seiten der Straße waren voll von Missetätern, Nachtschwärmern, Taschendieben und allerlei Lumpenkerlen aus Southwark. Manche ließen die Demütigungen und den Schmutz, mit dem die Vorübergehenden sie bewarfen, stoisch über sich ergehen, als wäre es ein Berufsrisiko; andere heulten und jammerten um Wasser. Athelstan musterte rasch die Gesichter und sah zu seiner Erleichterung, daß keines seiner Gemeindekinder dabei war.
Am Zugang zur Brücke blieb Cranston stehen und hämmerte gegen die mit Eisennägeln beschlagene Tür des Törhauses. Als niemand kam, trat der Coroner, ohne auf Athelstans Fragen einzugehen, gegen die Tür und brüllte: »Komm schon, Burdon, du kleiner Dreckskerl! Wo steckst du?«
Jetzt wurde die Tür aufgerissen, und eine kleine Kreatur mit behaartem Gesicht erschien, ein wahrer Wichtel. Athelstan lächelte Robert Burdon an, den Vater von mindestens dreizehn Kindern und Konstabler des Torturms.
»Ach, Ihr seid's, Cranston. Was wollt Ihr?«
»Kann ich hereinkommen?« fragte Sir John.
»Nein, verdammt, das könnt Ihr nicht! Ich bin beschäftigt.«
Cranston spähte zu den Stangen über dem Torhaus mit ihrer grausigen Zierde: Dort steckten die abgeschlagenen Köpfe von Verrätern und Verbrechern.
»Gut«, sagte Cranston leise. »Aber wer stiehlt die Schädel?«
»Zum Teufel, das weiß ich nicht!« erwiderte Burdon und schob die Daumen hinter seinen Gürtel; seine kleinen dunklen Augen funkelten Athelstan an. »Was soll ich machen, Pater? Mein Auftrag ist sehr einfach: Ich soll das Torhaus bewachen und die Köpfe auf die Stangen spießen, und ich kümmere mich immer um sie. Aber wenn eine abscheuliche Viper kommt und sie stiehlt - was kann ich da machen?« Er plusterte seinen kleinen Brustkasten auf, so daß er Athelstan noch mehr an ein Sperlingshähnchen erinnerte. »Ich bin Konstabier, kein Wachsoldat.«
»Robert!« Die Frauenstimme, die von drinnen kam, klang sanft und verlockend.
»Meine Frau«, erklärte Burdon. »Sie wird Euch das gleiche sagen. Ich weiß nicht, was passiert ist, Sir John. Ich gehe ins Bett, die Köpfe sind da. Ich wache auf, und die Köpfe sind weg, obwohl jemand aufpaßt.« Er beugte sich vor. »Ich glaube, das sind die Hexen«, raunte er. »Die durch die Nacht reiten.«
»Blödsinn!« donnerte Cranston.
»Na gut, das ist die einzige verdammte Antwort, die Ihr von mir kriegt. Also macht Euch fort!« Burdon verschwand und schlug die Tür hinter sich zu.
Cranston schüttelte den Kopf und nahm einen großzügigen Schluck aus seinem Weinschlauch.
»Komm, Bruder.«
»Was glaubt Ihr, wer die Köpfe stiehlt?« fragte Athelstan, schlang sich Philomels Zügel um das Handgelenk und ritt neben Cranston her.
»Weiß der Himmel, Bruder. In dieser Stadt tummeln sich alle Dämonen der Hölle. Es könnte ein Zauberer sein oder eine Hexe. Die Gilden waren besonders wütend über das Verschwinden eines Schädels dieses französischen Kaperkapitäns, Jacques Larue du erinnerst dich, der vor Gravesend aufgebracht wurde. Rätsel über Rätsel.« Cranston seufzte und blieb vor der Kapelle des Hl. Thomas stehen, die mitten auf der Brücke thronte.
»Vergiß den Schädeldieb«, knurrte er. »Wen kümmert das schon? Burdon nicht, und die Wachen der Gilden sind halb hinüber vom Saufen.« Er deutete mit dem Kopf auf die eisenbeschlagene Kapellentür. »Vor Jahren, als ich noch rank und schlank war, ein wahrer Greyhound, da kamen Oliver Ingham und ich hierher, um unsere Gelübde als Ritter abzulegen und unsere Schwerter dem Dienst am König zu weihen. So viele Jahre ist das her.« Tränen brannten in Sir Johns Augen. »Jetzt bin ich fett und alt, und ein hartherziges Weib aus der Hölle läßt Oliver ermordet und stinkend in seinem Bett liegen, wo die Ratten an seiner Leiche nagen. Sie hat ihn umgebracht! Du weißt es, Athelstan. Ich weiß es. Sie weiß es.«
»Und Gott weiß es auch«, fügte Athelstan sanft hinzu. »Kommt, Sir John, laßt die Sache ruhen.«
Sie überquerten die Brücke und wandten sich nach rechts, nach Billingsgate, wo der Fischmarkt in vollem Gange war. Das Geschrei und der Aufruhr, den Händler und Käufer veranstalteten, summte in ihren Ohren wie ein Hornissennest. Der ganze Kai schien von Schubkarren bedeckt zu sein, manche mit Körben, andere mit Säcken beladen. Die verworrene Takelage der Fischerboote am Flußufer erinnerte Athelstan an Seehäfen. Der Geruch von Fischen und Muscheln, von Heringen, Sprotten und Kabeljau war überwältigend.
»Feiner Kabeljau, der beste auf dem Markt!« schrie ein Standbesitzer ihnen entgegen. »Wunderschöne Hummer, gut und billig! Herrliche Krebse, alle lebendig!« rief ein anderer.
Cranston und Athelstan führten ihre Pferde vorbei an Ständen, auf denen Steinbutt mit perlmuttweißem Bauch neben scharlachroten Hummern schimmerte. Braune Körbe voll wimmelnder Aale standen um dampfende Kessel herum, wo Muscheln in Schalen lebendig gekocht wurden.
»Wo gehen wir hin?« fragte Athelstan leise.
Cranston deutete auf eine große Schenke, die schön für sich am anderen Ende des Marktes stand.
»Zum ›Narrenschiff‹«, erklärte er.
Athelstan stöhnte. »Oh, Sir John, Ihr habt genug Rotwein getrunken.«
»Scheiß darauf!« schrie Cranston durch den Lärm.
»Wir sind hier, um den Menschenfischer zu treffen.« Aber weiter wollte er nichts sagen.
Im Hof der Taverne nahm ein Stallknecht ihnen die Pferde ab, und sie betraten den großen Schankraum, in dem es nach Bier, Ale und Pökelfleisch stank.
»Euer Diener.« Ein krummbeiniger Kneipenwirt berührte die Locke auf seiner Stirn, und seine kleinen gierigen Augen blickten unverwandt auf die schwere Börse an Sir Johns Gürtel.
»Einen Becher Roten für mich, und ein wenig…«
»Ale«, half Athelstan.
»Ein wenig Ale für meinen Schreiber, und noch einen Becher Roten für den Menschenfischer. Ich bin Sir John Cranston, der Coroner, und wünsche ihn zu sprechen.«