Der Wirt wurde noch unterwürfiger. Er geleitete Cranston und Athelstan großartig wie zwei Fürsten zu einem kleinen Alkoven mit einem Tisch unter dem Fenster, das einen Blick über den Fluß gewährte. Er holte zwei große Becher Wein und einen Humpen Ale und versicherte Sir John wortreich, daß er bereits einen Jungen losgeschickt habe, der den Menschenfischer holen solle.
»Wer ist das?« fragte Athelstan.
»Der Menschenfischer«, antwortete Cranston und trank einen Schluck aus seinem Becher, »ist ein Beamter der Krone. Es sind insgesamt fünf, die alle am Flußufer arbeiten. Dieser hier ist zuständig von der Fish Wharf in St. Botolph bis Petty Wales beim Tower.«
»Ja, aber was tun sie?«
»Sie fischen Tote aus der Themse. Mordopfer, Selbstmörder, Verunglückte, Betrunkene. Fischen sie einen Lebenden heraus, erhalten sie zwei Pence. Für ein Mordopfer gibt es drei und für Selbstmörder und Verunglückte bloß einen Penny.«
»Sir John.«
Athelstan blickte auf. Eine hochgewachsene, dürre Gestalt war lautlos erschienen. Cranston deutete mit einer Handbewegung auf den Schemel und den Wein.
»Seid unser Gast, Sir.«
Der Mann trat aus dem Schatten hervor. Als er sich hinsetze, hatte Athelstan Mühe, seine Abscheu zu verbergen. Der Kerl hatte rotes, fettiges, strähniges Haar, das ihm bis auf die Schulter reichte und ein Gesicht umrahmte, das düster wie eine Totenmaske war: alabasterweiß, mit Fischmaul, Stumpfnase und schwarzen Knopfaugen. Cranston machte die beiden miteinander bekannt, und der Menschenfischer musterte den Ordensbruder mit ausdrucksloser Miene.
»Seid Ihr gekommen, um den Toten anzusehen?«
Athelstan nickte.
»Dümpelte an der Oberfläche herum«, sagte der Mann. »Dümpelte wie ein Korken. Wißt Ihr, die meisten Mordopfer werden mit Steinen beschwert, aber dieser war merkwürdig.«
»Wieso?«
»Na ja, seht Ihr, Sir John« - der Mann nippte an seinem Weinbecher; sein Gesicht war starr, und er zuckte nicht mit der Wimper , »es kommt sehr selten vor, daß ich meine Kunden kennenlerne, bevor sie sterben. Aber gestern, spätnachmittags, kurz nachdem der Markt geschlossen war, kam ich aus St. Mary at Hill, um meinen gewohnten Gang am Kai zu machen. Ich studiere gern den Fluß, die Strömungen, den Wind.« Der seltsame Bursche begann sich für sein Thema zu erwärmen. »Der Fluß verrät einem manches. Wenn das Wasser rauh ist oder ein starker Wind geht, dann werden die Leichen in die Strommitte hinausgetragen. Gestern denke ich noch: Der Fluß ist ruhig, er will mir wohl. Die Toten werden ans Ufer gespült.«
Athelstan verbarg ein Schaudern.
»Und da geht nun ein Mann auf und ab, auf und ab, als ob er auf jemanden wartet. Oh, denke ich, das ist ein Selbstmörder, ganz klar. Aber ich will nicht gierig sein, und gehe weiter. Der Mann steht hinter den Fischständen, zwischen den Ständen und dem Fluß. Ich höre einen Schrei. Ich drehe mich um. Der Mann ist weg.« Der Kerl nippte an seinem Weinbecher. »Ich renne am Kai entlang zurück, und da ist er: dümpelt im Fluß mit ausgebreiteten Armen, und aus einer Wunde in seiner Brust strömt das Blut. Ich werfe meine Angelschnur aus.« Der Kerl klopfte auf die Lederbeutel an seinem Gürtel. »Ich habe ihn hereingezogen, ihm mein Zeichen an die Brust geheftet und in meine Werkstatt gebracht.«
»Werkstatt?« fragte Athelstan.
»Ihr werdet schon sehen.«
Cranston warf Athelstan einen warnenden Blick zu.
»Sonst war niemand da?« fragte der Coroner. »Ihr habt niemanden in der Nähe gesehen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Keine Menschenseele. Ich sage Euch, Sir John, der Kai war völlig verlassen. Ich habe auch niemanden gehört.«
»Aber wie kann das sein?« fragte Athelstan. »Wie kann jemand auf Sturmey zugehen, ihm ein Messer ins Herz stoßen und verschwinden wie eine Rauchwolke?«
Der Menschenfischer zuckte die Achseln und leerte seinen Weinbecher. »Ich ziehe nur die Leichen heraus«, sagte er. »Ich kann nicht sagen, warum sie gestorben sind. Kommt, ich zeige ihn Euch.«
Er führte sie von der Schenke zu einer Seitenstraße und bog dann in eine schmale Gasse ein. Vor einem langen, scheunenartigen Gebäude blieb er stehen und öffnete die mit einem Vorhängeschloß gesicherte Tür. Sofort bedeckte Athelstan Nase und Mund, denn der Gestank war gräßlich. Der Menschenfischer zündete Fackeln an; blakend geriet das Pech in Brand, und Athelstan schaute sich um. Etwa ein Dutzend Tische füllten den Raum. Einige waren leer, auf anderen lagen lederbedeckte Bündel.
»So, welcher ist nun Sturmey?« murmelte der Menschenfischer bei sich. Er zog eine Lederdecke beiseite. »Nein. Das ist der Selbstmord.« Er blieb stehen, legte den Finger an die Lippen und deutete dann auf ein anderes Bündel. »Und das ist der Betrunkene. Also ist das« - triumphierend schlug er die Decke zurück »Sturmey!«
Ausgestreckt lag der tote Schlosser da; das Gesicht war gespenstisch weiß, sein Haar und die Kleider waren naß. Auf seiner Brust war ein dunkelroter Fleck. Neben dem Leichnam lag ein langes Messer. Athelstan nahm es behutsam in die Hand.
»Das gleiche«, murmelte er, »wie bei Mountjoy.« Er warf noch einen Blick auf den Toten. Cranston wandte sich ab und labte sich geschäftig an seinem Weinschlauch.
»Woher wißt Ihr, daß es Sturmey ist?« fragte Athelstan.
»Er hatte eine Liste mit Besorgungen in seiner Tasche, und darauf stand sein Name«, antwortete der Menschenfischer. »Und Mylord Coroner hatte mich und die anderen meiner Zunft schon beauftragt, nach dem Mann Ausschau zu halten.« Sein Gesicht wurde noch länger. »Den Rest wißt Ihr. Habt Ihr genug gesehen?«
»Bei den Zähnen der Hölle, ja!« blaffte Cranston. »Decke sein Gesicht zu!«
»Wenn Ihr mir die drei Pence bezahlt, Sir John, dann gebe ich den Leichnam frei.«
Cranston nahm noch einen Schluck aus seinem wunderbaren Weinschlauch. »In Ordnung«, erwiderte er verdrossen. »Um Himmels willen, Athelstan, laß uns hier verschwinden!«
Sieben
Cranston und Athelstan kehrten zum Stall zurück, um ihre Pferde zu holen.
»Noch einen Becher Roten, Bruder?«
»Nein, Sir John. Genug des bösen Trankes für diesen Tag. Sagt, ist Euch eingefallen, woher Ihr Sturmeys Namen kanntet?«
Cranston schüttelte den Kopf. »Aber eins weiß ich jetzt, Bruder: Sturmey wurde ermordet, weil er etwas wußte, das Rätsel der ausgeraubten Truhe lösen konnte.« Cranston starrte zwei Leprakranken nach, die ganz in Schwarz gekleidet die Straße hinunterschlichen, voller Angst, daß man sie erkennen könnte. »Sturmey wurde nach Billingsgate gelockt«, fuhr er fort. »Aber wieso? Was konnte einen angesehenen Schlosser dazu bringen, sich an Verrat und Raub zu beteiligen?«
»Es gibt nur eine Antwort, Sir John. Ich bezweifle, daß er sich hat bestechen lassen; also lautet die Antwort: Erpressung. Wenn Ihr Euer wunderbares Gedächtnis durchforscht, werdet Ihr bestimmt etwas ziemlich Unappetitliches über Master Sturmey herausfinden.«
Cranston nickte. Sie führten die Pferde weiter die Straße hinauf, wo ihre Aufmerksamkeit auf eine Menschenmenge gelenkt wurde, die eine gespenstische, in ein Ziegenfell gekleidete Gestalt umringte. Der Mann hatte langes, graues Haar, das ihm bis auf die Schultern reichte, und die untere Hälfte seines Gesichts war unter einem dichten, buschigen Bart verborgen; seltsame, wahnsinnige Augen musterten die Menge, die fasziniert war von diesem Propheten des Weltuntergangs und dem hohen, brennenden Kreuz in seiner Hand. Das Kreuz, dessen Querbalken mit Pech und Teer bestrichen war, loderte wild, und die Flammen und der schwarze Rauch verliehen den Warnungen des wahnsinnigen Predigers noch mehr Nachdruck.
»Diese Stadt ist verdammt wie Sodom und Gomorra! Wie auf Tyrus und Sidon und die Fleischtöpfe der Ebene wird der Zorn Gottes herniederfahren!« Der Mann schwenkte einen sehnigen Arm in Richtung Cheapside. »Ich bringe das brennende Kreuz in diese Stadt als Warnung vor den Feuern, die noch kommen werden! Also bereuet, ihr Reichen, die ihr euch auf goldenen Polstern räkelt, den Saft der Weintraube trinkt und euch das Maul mit den zartesten Speisen vollstopft!«