»Sir John!« Die Frau erhob sich. »Ihr seid jetzt seit einer guten Stunde in meinem Hause. Verschwindet endlich!«
»Ich bin noch nicht fertig«, kläffte er und trat dicht vor sie.
»Ja, was wollt Ihr denn noch? Diese lächerlichen Anschuldigungen!«
Cranston holte tief Luft. »Rosamund Ingham und Ihr, Albric Totnes: Ich, Sir John Cranston, der Coroner des Königs in dieser Stadt, verhafte Euch wegen Mordes und Verrats.«
Rosamund wurde bleich und starrte ihn an. Albric plumpste auf einen Stuhl und hielt sich den Bauch; seine Augen wurden feucht, und sein Mund stand offen. Er war die leichtere Beute, das erkannte Athelstan. »Oh Herr«, intonierte er, die Psalmen zitierend, »strecke aus Deine Hand und zeige Deine Gerechtigkeit.«
Rosamund hatte die Fassung rasch wiedergefunden. »Mord? Verrat? Was soll dieser Unsinn?«
»Das wißt Ihr ganz genau, Mistress.« Cranston holte den kleinen Krug, den er aus der Schlafkammer mitgenommen hatte, aus seinem weiten Ärmel. »In Anwesenheit von Zeugen gebt Ihr zu, Mistress, daß dieser Krug die Medizin Eures verstorbenen Gemahls enthielt, eine Tinktur aus Fingerhut oder Digitalis? Eine Medizin, die, wenn ich recht verstehe, das Herz kräftigen kann, wenn sie in kleinen Dosen verabreicht wird?«
»Ja, so ist es. Was wollt Ihr sagen, Sir John? Daß mein Mann zuviel genommen hat? Er hat sich immer selbst eingegossen. Niemand sonst durfte den Krug anrühren.«
Cranston nickte. »Und würdet Ihr mir in Gegenwart von Zeugen auch zustimmen, daß dies der Krug ist, der in der Kammer Eures Gatten blieb, als ich die Tür versiegelte, und daß Euer Gatte ihn im Todeskampf umgestoßen hat?«
»Ja, ja.«
Ein Geräusch an der Tür veranlaßte Cranston, sich umzudrehen. Er rief den alten Diener herbei.
»Gerade zur rechten Zeit, mein Freund«, dröhnte er. »Ich könnte noch einen Zeugen gebrauchen. Sagt mir, Mistress« - er wandte sich wieder der Frau zu -, »habt Ihr schon einmal Fingerhuttinktur gekostet?«
»Selbstverständlich nicht! Sir John, Ihr habt ja getrunken.«
»Oh ja. Ja, das habe ich. Ich habe sogar aus diesem Krug getrunken.«
Athelstan warf einen raschen Blick zu Albric hinüber. Der Mann mochte ein Feigling sein, aber seinem Gesicht war anzusehen, daß er bereits erraten hatte, worauf Cranston mit seinem Verhör abzielte, und das schien sein Entsetzen nur zu steigern.
»Nun«, fuhr Cranston gleichmütig fort. »Fingerhut schmeckt beinahe nach nichts. Und so habt Ihr Euren Mann ermordet. Er bewahrte den Hauptvorrat seiner Arznei in einer verschlossenen Flasche in der Speisekammer auf. Er wußte nicht, daß Ihr vielleicht einen Monat vor seinem Tod die ganze Medizin weggeschüttet und durch ganz harmloses Wasser ersetzt hattet.«
»Seid nicht albern. Das hätte mein Mann doch gemerkt.«
Cranston grinste. »Und wo ist die Flasche?«
»Ich habe sie weggeworfen!« stammelte Rosamund.
»So, so«, erwiderte Cranston. »Und warum solltet Ihr das getan haben?«
»Weil sie nicht mehr gebraucht wurde.«
»Quatsch! Weil Ihr den Beweis vernichten wolltet. Er hätte nie etwas gemerkt. Schließlich«, fuhr Cranston fort, »sehen wir immer nur das, was wir zu sehen erwarten. Von meinen Medizinerfreunden weiß ich, daß Fingerhut in flüssiger Form klar und geschmacklos ist. Vielleicht habt Ihr etwas hineingerührt, um die Flüssigkeit dicker zu machen? Worum geht's hier, Weib? Da haben wir einen Mann mit schwachem Herzen, krank vor Sorgen wegen seiner treulosen Frau, dem seit Wochen die lebensrettende Medizin vorenthalten wird. Oh ja, Sir Oliver - Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe - starb an einem Herzanfall. Aber Ihr habt ihn herbeigeführt! Bruder Athelstan hier ist Theologe.« Cranston warf einen kurzen Blick auf Albric, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte, die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Athelstan wird Euch erklären, daß es zwei Arten von Sünde gibt: die tätige Sünde und die Sünde der Unterlassung. Albric, du weißt, was Unterlassung bedeutet?«
Der junge Stutzer schüttelte den Kopf.
»Es bedeutet, du hinterlistiger kleiner Scheißer, daß du eine böse Tat begehst, indem du etwas nicht tust. Du kannst einen Mann ermorden, indem du ihn in den Fluß wirfst. Aber du kannst ihn auch ermorden, indem du ihn nicht herausziehst.«
»Was für Beweise habt Ihr?« wollte Rosamund wissen.
»Genug, um Euch zu hängen«, versetzte Cranston scharf und trat vor. »Seht Ihr, als Euer Gemahl starb, mitten in seinem Herzanfall, da schlug er um sich und stieß mit der Hand den Medizinkrug um, so daß die Flüssigkeit herausfloß. Nun ist dieses Haus voller Ratten, und die Tiere sind neugierig und hungrig.« Cranston konnte vor Wut kaum sprechen.
»Mylord Coroner will sagen«, sprang Athelstan ihm ruhig bei, »wenn eine Ratte den Leichnam eines Menschen anknabbert, dann wird sie ganz sicher jede Flüssigkeit aufschlecken, die sie findet. Ich habe mir den Tisch angeschaut«, log er, »und dieser berufsmäßige Rattenfänger hat es ebenfalls getan. Auf dem Tisch sind Spuren von Ratten. Ihre Spuren und auch ihr Kot finden sich überall in dieser Kammer.« Er warf Ranulf einen Blick zu, und der nickte weise. »Was noch wichtiger ist«, fuhr er fort, »und mein guter Freund hier wird es beschwören: Wenn eine Ratte Fingerhuttinktur trinkt, dann wird sie gleich sterben. Aber wir haben keine toten Ratten in der Kammer gefunden.« Athelstan bemühte sich um eine überzeugende Miene. Er bluffte, denn kein Richter würde jemanden aufgrund solcher Beweise verurteilen. Als er Albric stöhnen hörte, setzte sein Herz fast aus. Der junge Mann löste die verschränkten Arme und wollte aufstehen.
»Das ist Unsinn!« fauchte Rosamund, und ihre Augen schimmerten triumphierend. »Erstens könnte sich die Ratte fortschleichen, um irgendwo zu verrecken, und tote Ratten haben wir im Haus schon gefunden, nicht wahr, Albric?« Der junge Mann war totenbleich; er nickte nur.
»Unmöglich!« Ranulf hatte die Lage erkannt und ergriff nun das Wort. »Fingerhut tötet eine Ratte auf der Stelle, das schwöre ich. Ja, ich könnte es Euch sogar vorführen.«
Albric setzte sich wieder und starrte Athelstan furchtsam an.
»Ihr habt von Verrat gesprochen.« Rosamund redete hastig, um ihre Verwirrung zu überspielen.
»Ja, das habe ich«, sagte Cranston leise. »Gestern nacht wurde ich von Strauchdieben überfallen. Ich schlug sie in die Flucht, aber einen konnte ich gefangennehmen«, log er. »Er hat mir gestanden, daß Ihr sie gedungen hattet, um mich zu ermorden.«
»Unfug!«
»Er hat Euren Namen genannt.«
»Ach, das ist lächerlich!« höhnte sie. »Ihr wollt mich beschuldigen, ich hätte drei Strauchdiebe gedungen?«
Cranston grinste. »Woher wißt ihr, daß es drei waren?«
Der Hohn in Rosamunds Miene erstarb.
»Dich haben sie auch genannt.« Cranston nickte Albric zu.
»Das kann nicht sein!« zischte der junge Mann und funkelte Rosamund wütend an. »Du hast gesagt, es besteht keine Gefahr dabei.«
»Oh, halt dein Maul, du Dummkopf!« Sie setzte sich und schlug die Hände vors Gesicht.
Athelstan atmete aus; er merkte, daß er sich die Fingernägel in die Handflächen gebohrt hatte. Er trat zu dem jungen Mann.
»Gesteht«, sagte er leise. »Macht Euch zum Zeugen der Krone, und wer weiß, was der Coroner alles für Euch tun kann.«
Athelstan hockte sich nieder und tätschelte dem jungen Mann die Hand. Albric starrte nur zu Boden, und er richtete sich wieder auf.
»Ich werde gestehen«, murmelte Albric.
Rosamund reckte Athelstan ihr tränennasses, haßerfülltes Antlitz entgegen. »Halt's Maul, du verfluchter Pfaffe! Du zerlumpter Halbmann! Ich hab's für dich getan!« zischte sie Albric zu. »Für dich habe ich's getan!«
Er schüttelte den Kopf. »Wir sind fertig miteinander«, flüsterte er.
Cranston wandte sich um und winkte den Diener herbei. »Schnell, geh die Straße hinunter. In der Schenke zum Mond und Käfig findest du vier Wachsoldaten. Die bringst du sofort her!«