»Das Werk des Ira Dei?«
»Ohne Zweifel. Ich wurde bewußtlos geschlagen, bevor die Wache mich rettete. Die Schweine haben mir sogar eine Nachricht an den Mantel geheftet.«
»Was stand darauf?«
»›Fordere nicht heraus den Zorn Gottes!«‹ Vorsichtig bewegte Clifford die Schulter. »Mir ist es schnuppe. Wer mich aufhalten will, braucht schon mehr als ein paar Wüstlinge«, bemerkte er trocken.
Er bot weitere Erfrischungen an, aber Athelstan wies darauf hin, daß die Zeit verging.
»Sir John«, erklärte er, »möchte Sturmeys Werkstatt aufsuchen, die Siegel des Regenten abnehmen und alles durchsuchen.«
Clifford war einverstanden, und sie traten hinaus in das Gewimmel des Marktes. Clifford plauderte über Gaunts Entschlossenheit, das Bündnis mit den Gildeherren zu erneuern.
»Sprecht leise und haltet die Hand auf der Börse«, riet Cranston und grinste Athelstan an. »Ich glaube, ganz Southwark ist hier.«
Der Bruder sah sich um. An den Ständen herrschte reges Treiben, und das Gebrüll der Lehrlinge war ohrenbetäubend. »St.-Thomas-Zwiebeln!«
»Frisches Brot!«
»Heiße Pasteten!«
»Nadeln und Spangen für eine Dame!«
»Eine Kappe für Euch, Sir!« Ganz London, Edelleute in Seide und Bauern in Sackleinen, drängten sich um die Stände, und Athelstan sah die scharfgeschnittenen Gesichter von Gaunern, Taschendieben und Beutelschneidern bei der Arbeit. Er war schon so oft mit Cranston durch die Stadt gelaufen, daß er inzwischen genauso geschickt wie der Coroner den Dieben bei ihrer verstohlenen Arbeit zusah - wie sie unentwegt über den Marktplatz streiften und nach Opfern Ausschau hielten. Auch jetzt waren diese kleinen Verbrecher beschäftigt, offensichtlich blind für die Strafen, die an den Prangern und Schandpfählen der Cheapside vollzogen wurden: Marktbüttel ketteten dort Männer und Frauen an und hängten ihnen plumpe Schilder um den Hals, auf denen die Litanei ihrer Missetaten stand, sei es nun, daß sie von kostbaren Gewändern die Knöpfe abgeschnitten oder daß sie sich als Knochen- und Lumpensammler nicht gescheut hatten, alles mitzunehmen, was irgendwo von einem Stand gefallen war.
Ein Ablaßhändler stand mit schmierigen Schriftrollen in den Händen vor dem Marktkreuz und bot Nachlaß der Sünden für jeden feil, der für die Schatztruhen des Papstes spendete. Höker verkauften verbogene Löffel, rostige Blechbecher und anderen Kleinkram. Huren paradierten umher und hatten dabei ein wachsames Auge auf die Bezirkskonstabler. Wasserhändler boten frischen Trunk feil und vertrieben die Hunde, die an ihren Eimern saufen wollten, und die zerlumpten Straßenjungen, die um einen kostenlosen Schluck bettelten. Ein Hinrichtungskarren bahnte sich einen Weg durch die Menge; ein Mönch mit schwarzer Kutte ging ihm voraus und murmelte Gebete für die Todgeweihten. Drei verurteilte Verbrecher saßen auf ihren billigen Pfeilkistensärgen und schrien der kleinen zerlumpten Schar ihrer Freunde und Bekannten Abschiedsgrüße zu. Diese begleiteten die Verurteilten zum Galgen und hängten sich dort an ihre Beine, um so für einen raschen Tod zu sorgen. Hin und wieder wurde Cranston von ehrenwerten Bürgern erkannt und gegrüßt oder mit finsteren Blicken und einem Schwall von Obszönitäten von denen bedacht, die schon einmal die fette Hand des Coroner im Nacken gespürt hatten.
Endlich bogen sie in die Ironmonger Lane ein. Sturmeys Werkstatt war mit Brettern vernagelt, aber die blasse Magd und der geschwätzige Lehrling ließen sie ein.
»Sein Sohn ist noch nicht aus dem Norden zurück«, erzählte der Junge ihnen. »Aber je eher er kommt, desto eher kann ich zu einem neuen Meister.«
Cranston tätschelte ihm den Kopf und drückte ihm einen Penny in die Hand. Clifford zog seinen Dolch, durchschnitt das Siegel des Regenten und schloß mit den Schlüsseln, die von den Behörden beschlagnahmt worden waren, die Werkstatt auf. Mit der kundigen Unterstützung des jungen Lehrlings machten sie sich daran, die Berge weggeworfener Schlüssel zu durchsuchen. Athelstan prüfte das Rechnungsbuch des toten Schlossers, aber nach einer Stunde hatten sie nichts Interessantes gefunden.
Clifford verzog das Gesicht, weil seine Schulter ihn schmerzte, und er stampfte verärgert mit dem Fuß auf.
»Sturmey muß einen zweiten Satz Schlüssel angefertigt haben. Aber wie und wo, das ist ein Geheimnis, Sir John.«
Cranston betrachtete das Engelsgesicht des jungen Lehrlings. Eine vage Erinnerung regte sich in seinem Kopf.
»Wie lange hast du Meister Sturmey gedient?« fragte er ihn.
»Es ist jetzt drei Jahre her, Sir, daß meine Mutter den Vertrag mit ihm gemacht hat, und drei Jahre habe ich noch vor mir.«
Cranston nickte weise. »Und dein Meister hat immer hier gearbeitet?«
»Oh ja, hier oder im Garten.«
»Und er bekam nie Besuch?« lächelte Cranston. »Von diesem jungen Edelmann hier, zum Beispiel?«
Der Bursche schaute Clifford an und schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Es kamen immer nur der Bürgermeister und der Sheriff.«
Athelstan verließ die Werkstatt und ging den Korridor hinunter. Er lächelte der jungen Magd in der Küche zu und ging durch die Hintertür hinaus. Der Garten war gut gepflegt mit einem kleinen Rosengebüsch, einem Gemüsebeet sowie Blumen und Kräutern, Iris, Lilien, Primeln und Kornblumen, die einen kleinen Teich umstanden. Die Luft war vom süßen Duft der Kräuterbeete erfüllt: Kamille, Fenchel, Lavendel, sogar ein wenig Ysop und Majoran wuchsen dort. Athelstan sah ein kleines Backsteinhäuschen am Ende des Gartens und folgte dem Pfad dorthin. Überrascht stellte er fest, daß die schwere Tür verriegelt und mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Er kehrte ins Haus zurück und fragte den Jungen nach dem Schlüssel. Der schüttelte den Kopf.
»Den hat Master Sturmey extra aufbewahrt«, erklärte er. »Wir durften dort nie hinein.«
Neugierig geworden, folgten Cranston und Clifford Athelstan hinaus in den Garten. Der Coroner hatte Hammer und Meißel von einer Werkbank mitgenommen und machte kurzen Prozeß mit dem Vorhängeschloß. Im Innern des steinernen Schuppens roch es muffig. Cranston stieß die Fensterläden auf und schaute sich um. Er sah eine Werkbank und ein paar Truhen. Grinsend deutete er auf eine kleine Esse.
»Hier hat er die Schlüssel gemacht«, erklärte er und hatte mit Hammer und Meißel die Truhen im Handumdrehen geöffnet. Darin lagen alle Werkzeuge, die ein Schlosser benötigte: Blei- und Stahlstreifen, Gußeisen und Schlüsselrohlinge. Cranston wühlte in einer der Truhen und förderte eine Gießform zutage, die absichtlich zerschlagen worden war. Er gab sie Clifford.
»Wenn Ihr damit zum Lord Regenten geht, dann werdet Ihr feststellen, daß Sturmey diese und andere benutzt hat, um einen zweiten Satz Schlüssel herzustellen; das ist so sicher, wie Katzen gern Milch trinken.«
»Aber für wen hat er das gemacht?« fragte Clifford.
»Ah, das ist das Rätsel.«
Cranstons Blick fiel auf ein kleines Buch, das tief im Dunkel der Truhe lag. Er nahm es heraus, während Clifford in den Garten hinausging, um die Bruchstücke der Gießform genauer zu untersuchen. Cranston blätterte in dem Buch. Erst hielt er es für ein kleines Stundenbuch, aber dann sah er die geschickt gezeichneten Illustrationen und schob es in seinen Ärmel. Jetzt kannte er Master Sturmeys dunkles Geheimnis.
Clifford war aufgeregt über den Fund, den Cranston gemacht hatte, und konnte es kaum erwarten davonzueilen. Er überließ es Cranston und Athelstan, dem Lehrling und der Magd zu danken.
Als sie das Haus verlassen hatten, zeigte Cranston dem Bruder das Buch. Athelstan blätterte die feinporigen Pergamentseiten um und pfiff leise, als er die Bilder betrachtete, die ein geschickter Künstler gemalt hatte. Knaben und junge Männer, nackt, wie sie zur Welt gekommen waren, in vielfältigen Posen. Manche kämpften mit Schwertern, eine Gruppe räkelte sich auf Brokatpolstern, und zwei übten sich im Speerwerfen. Andere Bilder waren gewagter: junge Männer, die einander wuschen oder Umarmungen und Küsse austauschten.