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Cranston wandte sich ab und räumte sein Arbeitszimmer auf, während Athelstan auf einem Schemel saß und das Pergament las.

»Das kann ich nicht glauben«, murmelte er.

»Oh doch.« Cranston grinste böse. »Wo Reichtum ist, da ist auch Sünde. Und sie sind alle auf die eine oder andere Weise darin verwickelt.«

Athelstan las weiter. Das Pergament war zwei Fuß lang, die Schrift klein und dicht. Das Ganze enthielt Memoranden und Berichte, Nachrichten und Abrechnungen. Athelstan mußte schließlich damit zum Fenster gehen, um es genauer zu studieren.

»Ist Euch noch ein Name aufgefallen, Sir John?«

»Welcher?«

»Ein Master Nicholas Hussey, Chorist in St. Paul.«

Cranston kam herbei und las die Zeile über Athelstans Zeigefinger.

»Bei den Eiern des Teufels!« hauchte er. »Bruder, du hast recht.«

Athelstan las weiter. Boscombe kam zurück und grinste von einem Ohr zum anderen; die Gildeherren und der Bürgermeister wollten Sir John sogleich empfangen, meldete er. Schnaubend wie ein Stier packte Cranston seinen Mantel und rannte geradezu die Treppe hinunter. Er rief Lady Maude ein Lebewohl zu und marschierte dann mit bösem Grinsen auf den Lippen die Cheapside hinauf. Athelstan hastete hinterher; er versuchte immer noch, den Bericht zu Ende zu lesen, gab aber schließlich auf und stopfte die Pergamentrolle in die Ledertasche zu seinem Schreibwerkzeug.

»Das wird mir Spaß machen«, sagte Cranston leise. »Beobachte nur ihre Gesichter, Athelstan.«

Der Bürgermeister und die Gildeherren warteten in der Ratskammer. Athelstan sah, daß die Diener fortgeschickt worden waren; keine Erfrischungen wurden angeboten, als Cranston und er mit knappen Worten aufgefordert wurden, an dem großen ovalen Tisch Platz zu nehmen. Goodman sah noch glubschäugiger und banger aus als sonst. Sudbury und Bremmer waren sichtlich in Schweiß geraten. Marshall kratzte sich den kahlen Schädel und wollte ihnen nicht in die Augen sehen, und Denny hatte alles Stutzergebaren fallengelassen und starrte Sir John so unverwandt an wie ein erschrockenes Kaninchen, das sich einem Hermelin gegenübersieht.

Goodman räusperte sich. »Sir John, Ihr wolltet uns sehen?«

»Verdammt, das kann man wohl sagen!« Cranston legte seine massigen Arme auf den Tisch. »Wir wollen nicht um den heißen Brei reden. Meister Sturmey, der Schlosser, wurde beauftragt, eine besondere Truhe für die Goldbarren zu bauen. Sie wurde mit sechs verschiedenen Schlössern ausgestattet. Jeder von Euch hatte einen Schlüssel, und doch wurde das Gold herausgenommen. Sturmey ist tot, und bevor Ihr fragt:

Jawohl, er wurde ermordet, weil ihn jemand gezwungen hatte, einen zweiten Satz Schlüssel zu machen.« Cranston wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Nun mögt Ihr fragen: Warum? Was könnte einen angesehenen Handwerksmeister wie Sturmey dazu bringen, sich in Diebstahl und Verrat verwickeln zu lassen? Die Verlockung des Goldes? Nein, so war Sturmey nicht. Ein anderer Vorteil? Nein, meine Herren. Er war das Opfer eines Erpressers.«

Der Bürgermeister und die Gildeherren starrten Cranston an wie Verbrecher, die vor einem strengen Richter sitzen.

»Vor fünfzehn Jahren«, fuhr der Coroner fort, »war ich stellvertretender Coroner in Cordwainer und Farringdon. Sir Christopher« - er lächelte den Bürgermeister an -, »Ihr erinnert Euch doch sicher an meine Tage in jenem Amt, denn auch Ihr wart ja ein Justizbeamter. Da gab es einen Skandal, nicht wahr? Gewisse Anschuldigungen wurden dem königlichen Rat vorgetragen: Mächtige Kaufleute seien verwickelt in die fleischliche Verführung von Chorknaben und Pagen der St.-Pauls-Kathedrale. Sicher erinnert Ihr Euch noch, nicht wahr?« Cranston räusperte sich. »Zwei Kaufleute wurden gehängt, gestreckt und gevierteilt, weil dieses schmutzige Treiben zum Tod eines der Jungen führte. Tja.« Cranston lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Die Ermittlungen führten zu wohlhabenden, mächtigen Bürgern, die alle befragt wurden, und auf der Liste dieser Bürger standen auch der verstorbene Sir Gerard Mountjoy, der verstorbene Sir Thomas Fitzroy, Philip Sudbury, Alexander Bremmer, Hugo Marshall und James Denny.«

»Aber wir waren unschuldig!« fauchte Bremmer. »Geschwätz und Klatsch von boshaften Zungen!«

»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, erwiderte Cranston. »Aber da steht noch ein Name: Peter Sturmey, Schlosser. Wie dem auch sei, die Ermittlungen wurden irgendwann abgeschlossen, sonst wären an jedem Galgen der Stadt die fauligen Früchte erblüht. Im Verlaufe dieser Ermittlungen aber offenbarte Sturmey, gegen den keine Vorwürfe erhoben worden waren, die Existenz eines Männerbordells in einer Gasse bei Billingsgate. Erstens: Die Namen, die ich gerade aufgeführt habe, sind alle an der jetzt in Frage stehenden Angelegenheit beteiligt. Zweitens: Sturmey, der ebenfalls in die Sache verwickelt war, wurde jetzt ermordet im Wasser am Kai bei Billingsgate aufgefunden.«

»Kommt endlich zur Sache«, sagte Goodman leise.

»Oh, ich denke, es liegt auf der Hand«, warf Athelstan ein. »Selbstverständlich waren alle der hier Anwesenden unschuldig im Sinne der vor fünfzehn Jahren erhobenen Vorwürfe. Sturmey aber war schuldig, zumindest vor den Augen Gottes. Als Gras über die Sache gewachsen war, schwieg er. Er arbeitete hart in seinem Handwerk, auf das er sich gut verstand, aber er führte sein heimliches Doppelleben weiter. Die Jahre vergingen. Sturmeys Ruf als Schlosser sprach sich herum, und man betraute ihn mit dieser besonderen Aufgabe. Leider aber erinnerte sich jemand an die Vergangenheit, behielt Master Sturmey im Auge und fand heraus, daß der Schlosser immer noch ein Doppelleben führte.«

»Es ist, wie mein Schreiber sagt«, fuhr Cranston fort. »Sturmey wurde mit zwei Dingen erpreßt: mit der Vergangenheit und, was wichtiger ist, mit der Gegenwart. Wahrscheinlich fertigte er aus lauter Angst einen zweiten Satz Schlüssel an. Am Tag, als er starb, hatte man ihn nach Billingsgate bestellt, einen Ort, den unser Schlosser nur zu gut kannte - zu seiner, wie er glaubte, letzten Begegnung mit dem Erpresser.« Cranston spreizte die Hände. »Den Rest kennt Ihr. Der Erpresser hatte nicht vor, Sturmey reden zu lassen. Der Schlosser hatte seine Schuldigkeit getan und wurde brutal ermordet. Den Namen des Mörders kennen wir nicht, und wir wissen auch noch nicht, wie er Sturmey erstechen und den Leichnam in den Fluß werfen konnte.«

»Und?« quiekte Marshall. »Was hat das mit uns zu tun, Sir John?«

»Nun, Ihr alle wißt von dem Skandal, der in Sturmeys Vergangenheit lauert. Auf Euren Wunsch hin wurde er beauftragt, die Truhe zu bauen, die Schlösser anzufertigen und …«

»Und was?« zischte Sudbury und beugte sich vor, »Wollt Ihr damit sagen, Sir John, daß einer oder mehrere von uns oder wir alle etwas mit Verrat, Erpressung und Mord zu tun haben?«

Cranston lächelte falsch. »Sir, das habe ich nicht gesagt. Ich beschreibe lediglich die Tatsachen. Aber nachdem Ihr die Sache nun zur Sprache gebracht habt, will ich Euch doch fragen: War einer von Euch an dem Tag, als Sturmey starb, in Billingsgate? Oder hat einer von Euch ihn heimlich besucht?«

Ein Chor trotziger Verneinungen beantwortete Cranstons Fragen. Trotzdem sahen die Gildeherren so erleichtert aus, daß Athelstan den Verdacht bekam, sie könnten eine Menge zu verbergen haben. Goodman machte ein betretenes Gesicht. Schließlich, dachte Athelstan, hatte er Sturmeys Vergangenheit gekannt und sich trotzdem den übrigen angeschlossen und den toten Schlosser für diesen Auftrag ausgewählt.

»Andere wußten auch davon«, begehrte Denny auf. »Wieso fragt Ihr nur uns?«

»Wer wußte es denn sonst noch?« versetzte Cranston. »Seine Gnaden, der König, war noch nicht geboren, der Lord Regent war ein Knabe, und der Rat dürfte sich angesichts eines solchen Skandals die Ohren zugehalten haben. Ich habe ein Protokoll der Ermittlungen, und ich glaube nicht, daß noch weitere Abschriften davon existieren. Also bitte, sagt mir, wer wußte sonst noch davon?« Cranston zuckte die Achseln. »Vielleicht wußten andere Bescheid, aber sie sind keine mächtigen Gildeherren, und keine Zeugen von Verrat, Schatzdiebstahl und dem Mord an einem ihrer Kollegen, von der heimtückischen Ermordung eines Londoner Sheriffs ganz zu schweigen.« Cranston schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Aber ich sage Euch, Ihr Herren, der alte John Cranston wird die Wahrheit ausgraben, und die Gerechtigkeit wird ihren Lauf nehmen.«