»Wir fanden sie auf dem Boden liegend«, begann sie. »Halb erwürgt von dem Bettlaken, das sie sich um den Hals geschlungen hatte. Wenn es nicht gerissen wäre, und niemand das Gepolter gehört hätte …« Sie spreizte die Hände. »Dann müßte ich Euch jetzt mit Bedauern ihren Tod melden. Bruder Athelstan, was können wir tun? Wir haben hier ein Mädchen, ein Kind noch, das Selbstmord begehen könnte!«
Der Bruder stand auf. »Laßt mich zu ihr.«
Die Novizenmeisterin führte sie durch einen Torbogen auf einen kühlen Gang und klopfte an eine Zellentür. Eine andere Nonne öffnete, und die Novizenmeisterin führte sie hinein zu Elizabeth Hobden, die mit dunklen Augen und bleichem Gesicht drinnen auf der Bettkante saß. An ihrem zarten weißen Hals leuchtete ein violetter Bluterguß.
»Wie geht es Anna, ihrer Amme?« fragte Benedicta.
»Oh, der geht es gut. Sie ißt und trinkt, als wäre morgen der Jüngste Tag«, antwortete die Nonne.
Athelstan nahm einen Schemel und setzte sich zu Elizabeth. Er blickte zu den beiden Nonnen auf. »Schwestern, würdet Ihr uns bitte ein Weilchen allein lassen? Lady Benedicta bleibt bei uns.«
Die Nonnen gingen. Benedicta blieb an der Tür stehen, und Athelstan ergriff die schlaffe Hand des Mädchens.
»Elizabeth, schau mich an.«
Sie hob den Blick. »Was wollt Ihr?« murmelte sie.
»Ich will helfen.«
»Das könnt Ihr nicht. Sie haben meine Mutter ermordet, und jetzt bin ich eine Verfemte.«
Athelstan sah das Mädchen an; dann fiel sein Blick auf das Kruzifix, das hinter ihr an der Wand hing. Er nahm es ab und hielt es dem Mädchen vors Gesicht.
»Elizabeth, glaubst du an Christus?«
»Ja, Pater.«
»Dann leg deine Hand auf dieses Kruzifix und schwöre, daß dein Vorwurf wahr ist.«
Das Mädchen stürzte sich förmlich auf das Kreuz. »Ich schwöre es!« sagte sie mit fester Stimme. »Beim Leib Christi, ich schwöre es!«
Athelstan hängte das Kreuz wieder auf und hockte sich neben sie. »Jetzt versprich mir etwas.«
Das Mädchen starrte ihn an.
»Versprich mir, daß du keine Dummheiten mehr machen wirst. Gib mir eine Woche Zeit«, bat er. »Nur eine Woche. Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Das Mädchen nickte, und Athelstan zuckte zusammen, als er den Hoffnungsschimmer in ihrem Blick sah.
»Ich tue, was ich kann«, wiederholte er. Sanft tätschelte er ihr die Hand und ging dann hinaus.
»Was könnt Ihr denn tun?« fragte Benedicta, als das Tor des Minoritinnenklosters sich hinter ihnen geschlossen hatte.
»Ich weiß nicht«, antwortete Athelstan. »Aber vielleicht fällt Cranston etwas ein.« Er seufzte. »Ich hatte eigentlich vorgehabt, Sir John zumindest bis Montag in Ruhe zu lassen. Aber ich werde ihn wohl daran erinnern müssen, daß das Böse niemals ruht.«
Durch Aldgate und Cornhill gingen sie zurück in die Stadt. Der Pranger an der Ecke der Poultry war voll mit Übeltätern, die wegen Ruhestörung am Freitagabend verhaftet worden waren, und in dem großen Eisenkäfig am Wasserspeicher drängten sich Nachtschwärmer und Huren, die lärmten und johlten, als sie Athelstan mit einer Frau vorbeikommen sahen. In Poultry, Mercery und Westchepe dagegen war noch alles still, denn die Marktglocke läutete samstags erst spät. Lehrlinge bauten die Stände auf, während Straßenkehrer und Mistsammler halbherzige Versuche unternahmen, den Abfall und Müll des vergangenen Tages zu beseitigen.
Als sie bei Cranston klopften, öffnete ihnen eine Magd und teilte vergnügt mit, daß Lady Maude noch im Bett liege; Sir John aber sei nach St. Mary Le Bow zur Messe gegangen.
Athelstan verbarg sein Lächeln und führte Benedicta geradewegs hinüber zum »Heiligen Lamm Gottes«, wo sie den Coroner in seiner Lieblingsecke beim Frühstück mit Fleischpastete und einem Krug Ale antrafen. Er begrüßte sie stürmisch und gab keine Ruhe, bis auch Benedicta und Athelstan etwas aßen. Dann hörte er aufmerksam zu, während Athelstan von seinem Besuch bei den Minoritinnen erzählte.
»Was können wir tun?« fragte Athelstan schließlich leise.
Cranston versenkte die Nase in seinem Krug. »Nun, zunächst einmal haben wir keinen Beweis dafür, daß Walter und Eleanor Hobden ein Verbrechen begangen haben; nach dem Gesetz haben wir also kein Recht, sie zu verhören. Aber ich bin der Coroner des Königs in der Stadt, und ich habe die Befugnis, einen Leichnam zu exhumieren. Hobden sagte, seine Frau ist in St. James Garlickhythe begraben?«
Athelstan nickte.
»Gut. Dann fangen wir da an.«
»Dürfen wir das denn, Sir John? Was wird es beweisen?«
»Erstens darf ich alles. Und zweitens - wer weiß, was wir finden?« Cranston schaute aus dem Fenster. »Wir werden bis zum Abend warten müssen. Ein Teil des Friedhofs dort wird als Markt benutzt.«
Athelstan schloß die Augen und seufzte. In St. Erconwald gab es soviel zu tun, aber, wie Sir John sagen würde: »Aleajacta est - die Würfel sind gefallen.«
»Nun, bist du nicht froh?« fragte Cranston und hob den Krug halb zum Munde.
»Da ist noch etwas, Sir John.« Und Athelstan berichtete von der Nachricht, die Ira Dei ihm am Abend zuvor hinterlassen hatte, und versuchte, Benedicta zu ignorieren, die verärgert nach Luft schnappte, weil er ihr von der Gefahr nichts erzählt hatte.
Cranston wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Das heißt nichts«, sagte er dann. »Gaunt war dumm. Ira Dei würde dir kaum vertrauen.«
»Ja, aber warum antwortet er mir so schnell?« fragte Athelstan. »Wer wußte von meiner Botschaft an Ira Dei?«
»Gaunt und die Gildemeister. Als sie uns vom Überfall auf Clifford berichteten, wurde auch darüber gesprochen.«
Das Gespräch brach ab, als die Wirtsfrau mit einer Schüssel Zuckerpflaumen für Sir John an den Tisch trat. Ganz in Gedanken nahm auch Athelstan eine und steckte sie in den Mund. Er wollte weitersprechen, merkte aber, wie dick die Pflaumen mit Honig und Zucker umhüllt waren. Sie klebten an Zähnen und Gaumen. Er entschuldigte sich, ging zur Tür und versuchte, den klebrigsüßen Leckerbissen loszuwerden. Plötzlich hielt er inne und starrte auf seine Finger.
»Wann habe ich das zuletzt getan?« fragte er sich leise.
Er sah sich nach Benedicta und Cranston um, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und miteinander tuschelten; zweifellos erzählte der Coroner, was sich im Rathaus zugetragen hatte. Athelstan ging zu dem Lavarium in der hinteren Ecke der Schenke, tauchte die Hände in Rosenwasser und wischte sie an einem Handtuch ab. Er empfand ein leises Hochgefühl, denn zum ersten Mal seit Beginn dieser grausigen Morde sah er ein Licht flackern in der Dunkelheit. Er schaute zu einem gesalzenen Schinken hinauf, der am Deckenbalken der Schenke hing, und dachte an die Worte seines Mentors Pater Pauclass="underline" »Denke immer daran, Athelstan«, hatte der Alte dröhnend gesagt, »jedes Problem hat eine schwache Stelle. Finde sie, brich sie auf, und die Lösung wird nicht lange auf sich warten lassen.«
»Was ist los mit dir, Bruder?« brüllte Cranston.
Athelstan setzte sich wieder. »Sir John, seid Ihr heute beschäftigt?«
»Natürlich! Ich bin ja kein verdammter Pfaffe!«
Athelstan lächelte. »Sir John, laßt uns die Schritte unseres Mörders noch einmal zurückverfolgen. Ich will noch einmal zum Rathaus gehen, in den Garten, wo Mountjoy starb, und in den Bankettsaal, in dem Fitzroy vergiftet wurde. Benedicta, möchtest du mitkommen?«
Die Frau nickte.
»Was ist denn los, Bruder?« fragte Cranston neugierig.
Athelstan grinste. »Nichts weiter, Sir John. Aber der Mörder könnte an einer Zuckerpflaume klebenbleiben.«
Er ließ sich kein weiteres Wort entlocken. Murrend ging Cranston mit ihnen durch die Cheapside zum Rathaus und über Gänge und Höfe in den kleinen Garten, wo Mountjoy erstochen worden war. Ein aufgeblasener Beamter wollte sie aufhalten, ergriff aber die Flucht, als Cranston ihn anknurrte. Benedicta schaute sich um, bestaunte den bronzenen Falken auf dem Springbrunnen und das klare Wasser, das aus Leopardenmäulern in den kleinen, von Lilien und anderen Wildblumen gesäumten Kanal strömte. Sie huschte durch den Laubengang aus dünnen, mit Weidenschnüren zusammengeflochtenen Stangen und bewunderte die Weinranken und Rosen, die sich um sie rankten. Als sie herauskam, war ihr Gesicht ganz rot vor Aufregung.