»Ich finde es nicht«, murmelte er und schwankte dabei gefährlich.
Athelstan spähte ihm über die Schulter und sah, daß der betrunkene Pfarrer das Buch verkehrtherum hielt. Er nahm es ihm aus der Hand.
»Laßt mich helfen, Pater«, erbot er sich sanft.
Der Ordensbruder warf Cranston einen trotzfunkelnden Blick zu und warnte ihn damit, ja nicht zu lachen. Dann setzte er sich auf einen Grabstein und blätterte in den Seiten, bis er den Eintrag gefunden hatte: »Sarah Hobden, obiit 1376, Nordwest.«
»Wo ist das, Pater?«
Odo deutete in die hintere Ecke des Friedhofs. Athelstan reichte ihm lächelnd das Friedhofsbuch zurück.
»Pater, setzt Euch hin und ruht ein wenig aus.« Er klopfte dem alten Priester sanft auf die Schulter.
»Untersteht Euch!« zischte er Cranston zu, als dessen Hand sich zu dem wunderbaren Weinschlauch unter seinem Mantel tastete. »Der arme Mann hat genug, und ehrlich gesagt, Sir John, ich auch!«
Sie riefen die Arbeiter herbei und gingen zu dem Teil des Friedhofs, auf den Pfarrer Odo gedeutet hatte. Nach einigem Suchen fanden sie Sarah Hobdens Grab, heruntergekommen, überwuchert und vernachlässigt: Auf dem verwitterten, schiefen Holzkreuz stand immer noch verblichen ihr Name. Cranston schnippte mit den Fingern, und die murrenden Arbeiter fingen an, den festgestampften Boden aufzuhacken.
»Was wird das beweisen?« fragte Athelstan.
»Ah.« Cranston lehnte sich an einen Grabstein und wiegte seinen Weinschlauch im Arm, als wäre es eines seiner Kerlchen. Er tippte sich an die Nase und bedeutete dem Arzt: »Master Theobald, unterrichtet unseren unwissenden Pfaffen.«
Der Arzt zwinkerte Athelstan zu. »Als ich Sir Johns Einladung erhielt, studierte ich noch einmal sorgfältig die Ursache des Todes.«
»Und?«
»Nun, wenn es sich um Arsen handelt, vor allem um rotes Arsen, dann werden wir womöglich das sehen, was das gemeine Volk ein Wunder nennt. Laßt Euch überraschen, Pater.«
Der Arzt trat zu den Arbeitern und schaute ihnen zu; ihre Spaten und Hacken lösten jetzt einen hohlen Klang aus, denn sie hatten den Sargdeckel erreicht. Noch mehr Erde wurde ausgegraben. Athelstan schaute sich auf dem Friedhof um, und ihn fröstelte. Die Schatten wurden länger. Die Vögel waren verstummt. Nur noch das Schnaufen der Arbeiter und das Rieseln der Erde unterbrach die geisterhafte Stille.
»Warum ist es an solchen Orten nur so ruhig?« dachte Athelstan und spitzte die Ohren. Nur mit Mühe hörte er das Schwatzen und Lachen der Händler und Kesselflicker, die auf der anderen Seite der Kirche ihre Stände abräumten.
»Wir sind soweit, Sir John!« rief der Arzt.
»Dann hievt ihn hoch, Jungs!«
Ein Arbeiter sprang hinunter auf den Sargdeckel und befestigte ein paar Taue, und nach allerlei Zerren und Fluchen wurde der ausgebleichte, lehmbedeckte Sarg aus dem Grab gewuchtet. Cranston dankte den Arbeitern und schickte sie zu Pfarrer Odo. Dann zog er seinen langen Dolch und begann, den Sargdeckel aufzustemmen. Athelstan sah aufmerksam zu, als die Schließen aufgebrochen wurden. Langsam und knarrend öffnete sich der Deckel, fast als ob der Mensch, der darunter lag, ihn hochstemmte und aufzustehen drohte. Athelstan schob die Hände in die Ärmel, schloß die Augen und betete.
Es ist Gottes Gerechtigkeit, dachte er. Dies ist Gottes Werk.
Der letzte Beschlag brach. Cranston hob das zerschlissene Laken. Athelstan öffnete die Augen, als er Cranston nach Luft schnappen hörte. Der Arzt kniete neben dem Sargdeckel und untersuchte sorgfältig, was darunter lag.
Athelstan holte tief Luft, trat an den hohen Holzsarg und schaute hinein. Sprachlos starrte er das Gesicht der Töten an: Es war fettig, weiß und wächsern, als sei es aus Kerzentalg. Das Antlitz zeigte keine Spur von Verwesung. Die Züge der Töten waren recht hübsch, oval und regelmäßig; der Mund war großzügig, die Nase adlerhaft kühn.
»Um Gottes willen!« hauchte Athelstan. »Sie ist seit drei Jahren tot! Sie müßte verwest sein!«
Dreizehn
Vorsichtig berührte der Arzt das Gesicht. Dann strich er mit der Hand innen durch den Sarg. Als er sie wieder herauszog, sah Athelstan, daß sie mit feinem rotem Staub bedeckt war.
»Nichts Besonderes«, sagte der Arzt trocken. »Wißt Ihr, Bruder, Arsen ist ein hinterhältiges, tödliches Gift - zumal rotes Arsen. Sein einziger Nachteil ist, daß diese tödliche Substanz nach dem Tode offenbar wird, weil sie die Verwesung verhindert.« Er klopfte auf den Sarg. »Ich habe solche Fälle schon öfter gesehen. Der feine rote Staub, die nicht einsetzende Verwesung -das alles deutet darauf hin, daß die arme Frau über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg rotes Arsen verabreicht bekommen hat.«
»Und was jetzt?« fragte Athelstan. Er deutete auf den Leichnam. »Da liegt unser Beweis.«
»Ich werde auf meinen Eid nehmen, was wir hier gesehen haben«, sagte der Arzt, »und Sir John und Ihr ebenfalls. Das wird jeden Richter zufriedenstellen.«
»Wenn das so ist«, sagte Athelstan und schlug ein Kreuz über dem Leichnam, »dann möge sie ruhen in Frieden - jetzt, da Gottes Gerechtigkeit und der Wille des Königs geschehen werden.«
Zusammen mit Cranston verschloß er den Sarg wieder, und die Arbeiter begruben ihn erneut. Nachdem sie sich bei dem schläfrigen Pfarrer Odo und bei Master de Troyes bedankt hatten, wanderten Cranston und Athelstan langsam durch die Ropery zur Bridge Street hinunter. Die Seiler in diesem Viertel, die mit Zelten, Bindfaden, Hanf und Flachs handelten, hatten ihre Stände abgeräumt. Ein Straßenmusiker spielte den Dudelsack, und eine betrunkene Hure hüpfte dazu in einem wahnwitzigen Tanz herum. Die Bettler, die echten wie die berufsmäßigen, krochen aus ihren Verstecken und streckten die Hände nach Almosen aus, während eine kleine alte Frau mit verschlissener Segeltuchtasche geschäftig die Müllhaufen durchwühlte.
Die Schenken waren voll von Händlern, die das Ende der Arbeitswoche feierten, aber nach dem gespenstischen Friedhof und dem Bösen, das er dort gesehen hatte, war Athelstan müde und deprimiert. Aus einem Fenster über sich hörte er ein Baby schreien, und eine junge Frau fing an, ein Schlaflied zu singen; sanft und süß klang es in der warmen Abendluft.
»Wir sind von Sünde umgeben, Sir John«, bemerkte Athelstan düster. »Wohin wir auch schauen, sehen wir allenthalben die Augen von Raubtieren, wie im finstersten Walde.«
Cranston rülpste, streckte sich und schlug dem Bruder auf die Schulter.
»Aye, Bruder, aber die bösen Kerle können auch unsere Augen sehen. Kopf hoch, Bruder. Der Mord liegt uns allen im Blut. Du hast es selbst gesagt: die Inghams, die blutige Geschichte im Rathaus, und jetzt die Hobdens. Aber das Leben besteht nicht nur daraus. Hör doch, wie die Mutter für ihr Kind singt. Oder wie die Freunde dort in der Schenke miteinander lachen. Was du brauchst, Bruder, sind ein Becher Rotwein und ein gutes Weib.« Cranston grinste. »Oder vielleicht, in deinem Fall, ein ganz schlechtes!«
Athelstan erwiderte das Lächeln, wurde dann aber wieder ernst. »Was fangen wir mit den Hobdens an? Wir können nicht beweisen, daß sie Sarah ermordet haben.«
»Oh, um Himmels willen, Bruder, du denkst nicht mehr klar. Ich kann durchaus beweisen, daß sie es getan haben. Dieses Biest Eleanor hat doch in meiner Gegenwart zugegeben, daß sie die kranke Frau versorgt hat. Wer sonst wäre an sie herangekommen? Weißt du, was ich glaube, mein guter Mönch?« Cranston nahm noch einen Schluck aus seinem Weinschlauch. »Walter Hobden ist ein Schlappschwanz, dem diese entzückende Eleanor über den Weg lief und der sich in sie verliebte. Die beiden steckten die Köpfe zusammen. Walter fing an, seiner armen Frau ein paar Gran Arsen zu verabreichen. Sie wurde krank, und die liebste Eleanor wurde ins Haus geholt, um sie zu pflegen. Die Vergiftung geht Schritt für Schritt weiter.«