Athelstan stand auf und streckte sich; er zündete die Kerzen an und entfachte das Feuer, als Bonaventura durch das offene Fenster hereinglitt.
»Guten Abend, mein Prinz der Gassen.«
Der große Kater reckte sich vor dem Kamin, und seine rosarote Zunge blitzte hervor. Er schnurrte vor Behagen, als Athelstan einen Krug Milch aus der Speisekammer holte und seinen verbeulten Zinnapf damit füllte. Der Bruder hockte sich nieder und streichelte den einäugigen Kater zwischen den Ohren.
»Ich wünschte, ihr Tiere könntet sprechen«, sagte er leise. »Ich wünschte, ich wäre wie der große Franz von Assisi und hätte die Gabe, mit den kleinen Geschöpfen Gottes zu reden. Was für Geheimnisse siehst du, hm, Bonaventura? Wieviel Böses beobachtest du, wenn du in den Straßen und Gassen auf Jagd gehst?«
Bonaventura schleckte weiter seine Milch, und sein Schwanz zuckte vor Behagen hin und her. Athelstan erhob sich, nahm einen Schluck aus seinem Bierhumpen und widmete sich wieder seinem Problem. Es wurde dunkel; Eulen schrien draußen auf dem Friedhof, und der Bruder wurde immer gereizter. Er ging die Treppe hinauf und holte die Schriftrolle mit den fünfzehn Jahre alten Ermittlungsprotokollen, die er von Cranston bekommen hatte und in der auch von Sturmey die Rede war. Unten setzte er sich hin, legte sein Lineal unter jede Zeile, um gründlicher zu lesen, und studierte das Dokument aufmerksam.
»Oh Herr, hilf mir«, betete er. »Bitte, nur einen losen Faden!« Er las und las, und dann fand er etwas, in einer Ecke am Rande des Manuskripts, wo der Schreiber eine kleine Anmerkung hingeschrieben hatte. »Oh Herr, Du bist unser Erretter!« flüsterte er. »Oh ja, natürlich!«
Der Ordensbruder löschte die Kerze, stapfte die Treppe hinauf, legte sich auf sein Bett und starrte an die Decke. An einem so schönen Herbstabend, zumal an einem Sonntag, wäre er gewöhnlich auf seinem Kirchturm gewesen, um die Sterne zu betrachten und mit Bonaventura über die Theorien Roger Bacons zu debattieren. Aber er mußte gestehen, daß das Studium des menschlichen Herzens noch faszinierender war. Er begann, eine logische Erklärung zu konstruieren, die am Ende hoffentlich den Mörder ans Licht Gottes treiben würde. Im Geiste durchkämmte er alle Möglichkeiten, bis ihm die Lider schwer wurden. Er versank in einen unruhigen Schlaf, und immer wieder plagte ihn ein Alptraum, in dem er im Mondschein im Garten des Rathauses saß.
Er saß da, wo Mountjoy gesessen hatte, und sah, wie der Mörder sich hinter den Zaunpfählen bewegte. Er wollte aufstehen, merkte aber, daß er angebunden war und sich nicht rühren konnte. Er wußte, daß der Mörder zuschlagen würde. Dann drehte Athelstan sich um, weil er jemanden neben sich spürte, und erblickte die grauen Gesichter und rotgeränderten Augen einer Reihe von Leichen: Mountjoy, Fitzroy und Sarah Hobden. Auf einer Stange mitten im Garten aber stak der abgeschlagene Kopf des französischen Piraten Jacques le Roux. Die Leichen drängten sich mit aufgerissenen Mündern um ihn; Athelstan wollte sie wegschieben, wagte aber nicht, den Mörder, der hinter dem Zaun lauerte, aus den Augen zu lassen.
Endlich erwachte er, schweißgebadet und stöhnend. Er atmete tief durch, um sein pochendes Herz zu beruhigen, und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war bereits rötlich, und so stand er auf, wusch sich, zog sich an und ging dann hinunter in die Küche, um etwas zu essen.
Nach einer Weile verblaßten die Schrecken der Nacht; er saß mit Bonaventura auf dem Schoß vor dem neu entfachten Feuer und wiegte sich sanft auf dem Stuhl. Schließlich wandte er sich wieder dem Schreiben zu, langsam erst, doch dann immer energischer und schneller, und er verfaßte das, was er seine Anklageschrift gegen den Mörder nannte.
Draußen erwachten die Vögel, sie schwirrten umher und sangen; die Sonne stieg höher und wurde kräftiger. Athelstan legte die Feder aus der Hand und ging hinüber in die Kirche, um die Messe zu lesen. Niemand kam. Crim platzte mit verquollenen Augen zur Tür herein, als er fertig war, entschuldigte sich lautstark und berichtete, daß die beiden Familien Watkin und Pike am vergangenen Abend die bevorstehende Verlobung gefeiert hätten. Athelstan versicherte ihm, daß alles in Ordnung sei, nahm einen Penny aus seiner Börse und führte Crim hinaus in den Vorraum der Kirche.
»Du kennst den Lord Coroner, Crim?«
»Den alten Pferdezermalmer?«
»Na, Crim!«
»Ja, Pater, ich kenne den Lord Coroner, und ich weiß, wo er wohnt.«
»Nun, dann geh zu ihm und richte ihm aus, daß ich im ›Heiligen Lamm Gottes‹ auf ihn warte.« Athelstan machte eine Pause. »Ja, sobald der Markt beginnt. Sag ihm außerdem, er soll Lord Gaunt und die anderen Edlen bitten, uns gegen Mittag im Rathaus zu erwarten.« Er drückte dem Jungen den Penny in die schmutzige Hand und ließ sich die Nachricht dreimal wiederholen. Crim tat es gehorsam und schloß dabei konzentriert die Augen. Dann rannte er wie ein Hase durch die Gasse davon.
Athelstan ging in die Kirche zurück und hockte sich am Fuße einer Säule nieder. Er würde froh sein, wenn diese Sache erledigt wäre. Hoffentlich hatte er recht. Er hatte gewisse Beweise, aber nicht genug; das käme erst, wenn alle im Rathaus versammelt wären, auch wenn er dann würde gestehen müssen, daß die Identität des Ira Dei ein Geheimnis war, das ihm weiterhin verschlossen blieb.
Athelstan schaute sich in der Kirche um. Allmählich mußte er wirklich wieder seine vernachlässigten Gemeindegeschäfte in die Hand nehmen. Huddle hatte das Bild über dem Taufbrunnen nicht fertiggemalt und Cecily schon seit Tagen die Kirche nicht geputzt. Athelstan schloß die Augen. Wenn er doch jemanden überreden könnte, buntes Glas für eines der Fenster zu bezahlen, für ein strahlendes Bild wie die in den von reichen Patronen geförderten Kirchen in London, eine Geschichte aus dem Leben Jesu oder vielleicht auch des Hl. Erconwald, in vielen Einzelheiten abgebildet, so daß er sich in seinen Predigten darauf beziehen konnte.
Seine Gedanken schweiften ab. Hoffentlich war Elizabeth Hobden bei den Minoritinnen sicher - und ob Cranston wohl den Haftbefehl gegen ihren Vater und ihre Stiefmutter ausgestellt hatte? Seufzend stand Athelstan auf, kehrte ins Pfarrhaus zurück, räumte den Tisch ab, packte die Schreibutensilien in die Ledertasche und ging in den Stall, um den ziemlich mißmutigen Philomel zu satteln.
Vorbei an den niedrigen Hütten, in denen viele seiner Pfarrkinder wohnten, ritt er zur London Bridge hinunter. Er widerstand der Versuchung, Ursulas massige Sau über den Haufen zu reiten, die sich mit flatternden Ohren schwerfällig die Straße heraufschleppte; wahrscheinlich war sie schnurstracks unterwegs zu seinem Garten. An einer kleinen Aleschenke hielt Athelstan an; Cecily saß dort mit keck übereinandergeschlagenen Beinen und war in ein Gespräch mit Pike, dem Grabenbauer, vertieft. Athelstan gab den beiden die Kirchenschlüssel.
»Cecily«, sagte er in bittendem Ton, »die Kirche muß einmal gründlich geputzt werden, und ich habe dich dafür bezahlt.«
Die kindlichen blauen Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen. »Oh, Pater, es tut mir leid, aber …«
»Cecily war beschäftigt«, unterbrach Pike. »Mit Alberto.«
»Mit wem?«
»Mit einem Matrosen von einer Genueser Kogge, die in Dowgate lag.« Pikes Grinsen wurde breiter. »Jetzt ist er weg, Cecily ist wieder bei uns, und die Kirche ist bald sauber.«
Athelstan lächelte. »Hat er dir gefallen, Cecily?«
»Oh ja, Pater. Er hat versprochen, in zwei Monaten zurückzukommen.«
Athelstan nickte und trieb Philomel voran. Aye, dachte er. Die arme Cecily. Cranston würde sagen: »Alberto kommt zurück, wenn Ursulas Sau Flügel kriegt.« Er tätschelte Philomels Hals.
»Wir sind die Armen, Philomel«, sagte er leise. »Vergiß das nie. Und wenn Wünsche Pferde wären, dann könnten Bettler reiten.«