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»Warum greifst du mich an?« fragte Alberich in der alten Zwergensprache. Als er sie zuletzt benutzt hatte, war er noch ein Kind gewesen.

Die Züge seines Gegners verzogen sich zu einem wilden Grinsen. »Du wirst sterben, Alter«, zischte er zwischen aufgeplatzten Lippen. Seine Aussprache klang seltsam, ohne daß Alberich hätte sagen können, was ihn daran so irritierte.

»Ich bin viermal so alt wie du, Junge«, sagte Alberich, »und ich habe in mehr Schlachten gekämpft, als du zählen könntest. Sei nicht dumm und gib endlich auf.«

Die Antwort war ein aufgebrachter Schrei, und dann schlug auch schon erneut die Axt auf ihn ein. Die scharfe Schneide verfehlte ihn nur um Fingerbreite, und da wurde ihm endlich klar, daß es in diesem Kampf keine friedliche Übereinkunft geben würde.

Es war Wahnsinn. Vollkommener Wahnsinn. Es gab keine Zwerge mehr am Rhein, sie waren vor zwei Jahrhunderten von hier verschwunden. Alberich war der letzte, hatte sein ganzes einsames Leben mit dieser Gewißheit zugebracht. Und jetzt, wie aus dem Nichts, tauchte einer von seinem Volk auf, und statt sich zu verbrüdern und ihre gegenseitige Neugier zu stillen, kämpften sie miteinander auf Leben und Tod.

Alberich ließ die Goldgeißel in engem Winkel vorschnellen, ihre Ketten wickelten sich um den Stiel der Axt, und eine der Kugeln bohrte ihre Stacheln in den Handrücken des jungen Zwerges. Er schrie auf und zerrte an seiner Waffe, ohne sie jedoch freizubekommen.

»Hör endlich auf!« verlangte Alberich noch einmal, doch er hatte kaum zu Ende gesprochen, da ließ der Junge die Axt los und riß ein Kurzschwert aus seinem Gürtel. Alberich taumelte zurück und purzelte über einen Stein, schlug der Länge nach hin, mit dem Oberkörper über das Wirrwarr aus Axt und Geißel. Der junge Zwerg reagierte zu spät, konnte seinen Lauf nicht mehr bremsen, stolperte ebenfalls und wurde von seinem eigenen Schwung über Alberich hinweggetragen. Mit einem gellenden Kreischen schlitterte er über die Felskante hinweg. Als Alberich wieder auf die Beine kam, war sein Gegner bereits in der Schwärze verschwunden.

Niedergeschlagen und enttäuscht vom unnötigen Tod des Jungen trat er von der Kante zurück, löste die Geißelketten vom Griff der Axt und schleuderte die zweischneidige Waffe in hohem Bogen hinaus in die Finsternis. Dann drehte er sich um und machte sich durch den leeren Minenstollen auf den Rückweg.

Die Trommeln waren verstummt.

KAPITEL 3

Grimma blickte noch einmal zurück zu dem offenen Viereck in der Höhlendecke. König Thorhâl stand am Rande der Öffnung, in einer bunten Reihe mit einer Vielzahl seiner Untertanen, und winkte ihr huldvoll zu. Nahezu das ganze Volk hatte sich am Einstieg zur alten Zwergenstraße versammelt, um den Kundschaftern die Ehre des Abschieds zukommen zu lassen.

Der Lärm der zahllosen Zurufe wurde allmählich leiser, als Grimmas Trupp sich dem Fuß der steilen Geröllrampe näherte. Fast hundert Schritte weit führte die Schräge nach unten, ehe der Boden wieder eben wurde. Grimma hatte oft Erzählungen und Legenden über die unterirdische Zwergenstraße ins Nordland gehört, doch nichts davon hatte sie auf die überwältigende Größe des uralten Höhlenweges vorbereitet.

Sie hatte einen schmalen Gang erwartet, mit niedriger Decke und kaum breit genug, um zu mehreren nebeneinander zu gehen. Statt dessen aber öffnete sich vor ihr ein gigantischer Tunnel, mindestens siebzig Schritte hoch und ebenso breit. Tausende von Zwergen waren einst über diesen Weg aus dem Nordland gen Süden gezogen, und Grimma fragte sich, wie viele Generationen von Arbeitern an diesem Tunnel zugrunde gegangen waren.

Schon vor Jahrhunderten war das Wissen um die Lage der Straße aus dem Gedächtnis der Zwerge geschwunden. Zuletzt waren selbst die Ältesten der Ansicht gewesen, sie sei längst verschüttet - falls sie überhaupt je existiert hatte. Erst das Auftauchen der Nordlinge hatte sie eines Besseren belehrt.

Jetzt, nachdem der Feind geschlagen war, betraten zum erstenmal seit undenklicher Zeit wieder Zwerge die Höhlenstraße ihrer Ahnen. Vor Staunen waren sie alle in andachtsvolles Schweigen verfallen. Die einzigen Geräusche waren das Scharren ihrer Stiefel auf dem losen Geröll und das Raunen der Menge hoch über ihnen.

Grimma führte den zwanzigköpfigen Zwergentrupp an. Neben ihr gingen Egil, Bollis und Gellir. Alle drei hatten Prellungen und kleinere Wunden vom Kampf mit den Nordlingen auf der Treppe zurückbehalten. Dennoch hätte nichts sie davon abhalten können, Grimma zu folgen. Vor allem Gellir Rotbart, der eigens für die Reise seine eiserne Augenklappe poliert hatte, brannte darauf, die alte Zwergenstraße zu erforschen. Egil und Bollis hatten sich von seiner Begeisterung anstecken lassen, und Grimma dankte den Göttern im geheimen dafür, daß sie mit solchen Freunden gesegnet war.

Die übrigen sechzehn Mitglieder der Reisegemeinschaft waren zum überwiegenden Teil Krieger, die Grimma selbst ausgewählt hatte, mutige Zwerge, die den Tod nicht fürchteten und sich im Kampf mit den Nordlingen tapfer geschlagen hatten. Dazu kamen zwei Heilkundige, ein Zeichner, der unterwegs eine Karte des Weges anfertigen sollte, die beiden besten Armbrustschützen des Reiches (für die Jagd auf Fledermäuse) und, zuletzt, Styrmir, ein junger Berater des Königs, der darauf bestanden hatte, an der Expedition teilzunehmen.

Styrmir war einer der wenigen Zwergenmänner im Berg, denen die Götter keinen Bartwuchs geschenkt hatten, und um von dieser Schmach abzulenken, hatte er sich Kinn und Wangen mit einem Muster tätowieren lassen, das aussah wie ein Gewimmel roter Ameisen. Die Ämter der königlichen Berater wurden seit jeher vom Vater an den Sohn weitergegeben, und das war einer der Gründe, weshalb Thorhâl sich mit wichtigen Fragen häufiger an Grimma und die übrigen Heerführer wandte als an die Männer, die ihm die Tradition zur Seite gestellt hatte. Auch Styrmir hatte den Posten geerbt, und Grimma hatte das ungute Gefühl, daß Thorhâl ihn nur mitgehen ließ, um sich eine Weile von seinen lästigen Einflüsterungen zu befreien. Keiner der Krieger war froh über Styrmirs Begleitung, sie alle fühlten sich beobachtet. Schon wenige Augenblicke nach dem Aufbruch hielten die Männer mehrere Schritte Abstand zu dem königlichen Berater, und Grimma erkannte an Styrmirs Gesichtsausdruck, daß er die Ablehnung der anderen spürte, wenn auch nicht verstand. Eine Art kindliche Verwunderung lag über seinen glatten, gepflegten Zügen.

Der Einstieg blieb hinter ihnen zurück. Thorhâl verteilte Wachen am Rand der Öffnung, die den Zugang zur Zwergenstraße Tag und Nacht bewachen würden. Eine zweite Invasion aus den Tiefen durfte es nicht geben, nicht, nachdem das Heer vom Hohlen Berg der Hälfte seiner Krieger beraubt worden war.

»Wir werden ein Jahr lang auf euch warten«, hatte der König Grimma in einem ihrer vielen vertraulichen Gespräche vor der Abreise erklärt. »Auch wenn ihr das Nordland nach sechs Monden noch nicht erreicht habt, kehrt um. Vor allem, wenn ihr in dieser Zeit auf keine Feinde stoßt. Der Weg sollte dann sicher sein.«

»Sicher?« wiederholte Grimma und runzelte die Stirn. »Ihr wollt mit einem ganzen Volk ausziehen, bevor Ihr überhaupt wißt, wohin Euch der Weg fuhren wird?«

»Du verstehst das nicht, Grimma«, sagte Thorhâl kopfschüttelnd. »Du bist eine Kriegerin, eine ganz hervorragende, aber du mußt dich nicht mit den Belangen Hunderter Untertanen auseinandersetzen. Seit dem Ende der Kämpfe erreichen mich Tag für Tag Bittgesuche von Männern und Frauen, die auf eigene Faust losziehen wollen. Sie alle brennen darauf, den Berg zu verlassen und ihr Glück im Norden zu versuchen. Ich kann sie vertrösten, ein paar Wochen, vielleicht einige Monde. Das Jahr, das ich dir gebe, Grimma, ist mehr, als ich in meinem Herzen gutheißen kann.«