»Ihr fürchtet einen Aufstand?« fragte Grimma verblüfft. »Nach all den Jahrhunderten, die sich die Zwerge vom Hohlen Berg den Wünschen der Nibelungenfürsten unterworfen haben, soll gerade jetzt ein Umsturz drohen?«
Thorhâl lächelte bitter. »Ach, Grimma. Ich beneide dich um deine Gutgläubigkeit. Die Zwerge haben sich nur deshalb so lange in ihr Schicksal gefügt, weil es keinen Ausweg zu geben schien. Aber jetzt ist da plötzlich diese Verheißung eines freien Lebens im Nordland. Plötzlich ist unseren Leuten klargeworden, daß es noch etwas anderes gibt als die Kavernen dieses Berges und die Arbeit am Hort. Ich weiß nicht, wie lange ich das Volk davon abhalten kann, Hals über Kopf von hier fortzulaufen.« Er sah sehr müde aus. Grimma hatte ihn nie zuvor in so düsterer Stimmung erlebt. Von seiner Begeisterung, als er den Entschluß gefaßt hatte, Grimma als Kundschafterin auszusenden, war nichts geblieben. Mit einemmal sah er sich Zwängen ausgesetzt, die er nicht vorausgeahnt hatte.
»Ein Jahr, Grimma«, setzte er entschlossen hinzu. »Ein einziger Tag länger, und ich muß den Befehl zum Aufbruch geben.«
So waren sie verblieben, gegen Thorhâls und Grimmas besseres Wissen. In spätestens zwölf Monden mußten Grimma und ihre Männer zurück sein. Der Ernst dieses Ultimatums hatte sich wie eine unaufhaltsame Sanduhr in ihrer Brust verankert, sie trug so schwer daran wie an einem zweiten Herz.
Natürlich hatten sie auch echte Sanduhren dabei, jeder der beiden Schreiber trug eine in seinem Gepäck. Da es in den Tiefen des Erdreichs nicht möglich war, den Lauf des Mondes zu bestimmen, mußte die Zeit auf andere Weise gemessen werden. Jede Uhr lief genau einen Tag und eine Nacht lang, dann mußte sie gedreht werden. Es war Aufgabe der Schreiber, darüber Buch zu führen. Nach spätestens hundertachtzig Sandläufen würde Grimma den Befehl zur Umkehr geben.
Sie hatten eine Strecke von zwanzig Speerwürfen zurückgelegt, als das magische Licht des Hohlen Berges zurückblieb und die Dunkelheit des Tunnels den Trupp wie schwarzer Nebel umschloß. Obwohl die Zwerge in der Finsternis leidlich gut sehen konnten, ordnete Grimma an, die ersten Fackeln zu entzünden, in der Hoffnung, die Helligkeit würde die gedrückte Stimmung heben. Die groben Felsvorsprünge der Tunnelwände warfen zuckende Schatten, und da die Zwerge den gleichmäßigen Schein des Hortes gewohnt waren, erschien ihnen das gelbe Licht der Flammen alsbald fremdartig, sogar beängstigend. Grimma gestand sich ihre erste Fehlentscheidung ein und ließ die Fackeln löschen.
Fortan zogen sie lichtlos dahin, eingelullt von jahrtausendealter Dunkelheit wie von einem Lied in einer alten, vergessenen Sprache.
Nach den ersten Tagen ihrer Reise bemerkte Grimma, daß sich das Verhalten der Krieger gegenüber Styrmir wandelte. Aus stillschweigender Ablehnung wurde offene Feindschaft.
Der Berater des Königs marschierte tagsüber stets einige Schritte von den anderen entfernt, und auch nachts bereitete er sein Lager abseits der übrigen. Grimma nahm an, daß einige der Männer Bemerkungen gemacht hatten, die Styrmir zu solch einer Vorsichtsmaßnahme veranlaßt hatten. Obwohl sie einen Kampf nicht zugelassen hätte, rümpfte sie insgeheim die Nase über Styrmirs Zurückhaltung. Beleidigungen oder Drohungen unter den Kriegern hätten bei jedem anderen zu wüsten Prügeleien geführt. Nicht so bei Styrmir, er war aus anderem Stein gehauen. Er zog sich zurück, sprach nie ein Wort und tat, als stünde er weit über den Rangeleien der Krieger. Grimma aber sah ihm an, wie unglücklich er in Wahrheit war, und sie war sicher, daß er seine Entscheidung, sie zu begleiten, längst bereut hatte. Nicht ohne Häme dachte sie, daß ihm das ganz recht geschah. Was hatte er sich ihnen auch derart aufdrängen müssen?
Trotzdem gefiel es ihr nicht, daß es innerhalb ihrer Gruppe Spannungen gab. Eine Weile lang schaute sie zu und tat, als berühre sie Styrmirs Schicksal nicht, doch dann geschah etwas, das ihr schlagartig klarmachte, daß es an der Zeit war, einzuschreiten.
Am Abend des neunten Tages saß sie mit Egil, Gellir und Bollis rund um die knisternden Flammen eines Lagerfeuers. Es war kühl in dem endlosen Tunnel, und obwohl sie als Zwerge an die Kälte der Bergestiefen gewöhnt waren, machte ihnen der ewige Luftzug zu schaffen, der ihnen von Norden entgegenwehte. Der Brennholzvorrat, den sie mit sich führten, war äußerst begrenzt, doch sie hatten am Nachmittag ein eisiges Gewässer durchqueren müssen, und so hatte Grimma die Order ausgegeben, vier kleine Feuer anzuzünden. Für gewöhnlich kamen sie mit einem aus, doch heute mußten sie ihre Kleider trocknen und entsprechend nah an die Flammen rücken. So saßen sie in vier Gruppen um die Feuerstellen und unterhielten sich leise.
Plötzlich wies Gellir ins Dunkel, zur Westwand der Zwergenstraße. »Seht ihn euch an!« brummte er abfällig. »Hockt da und schreibt alles auf, was wir reden.«
Grimma erkannte in der Düsternis Styrmir, der abseits der Feuer dasaß und mit einer Feder etwas in ein gebundenes Büchlein schabte.
»Verfluchter Schnüffler!« schimpfte Egil. »Er horcht, ob irgendwer ein böses Wort über den König verliert.« Er hatte laut genug gesprochen, daß auch einige der Krieger an den anderen Feuern aufhorchten.
Bollis fiel kichernd mit ein. »Am besten wäre es, wenn er in irgendeine Felsspalte fiele.«
»Ja«, pflichtete ein Zwerg am Nebenfeuer bei. »Ein. Unfall. Sehr traurig.«
Grimma traute ihren Ohren kaum. »Seid ihr des Wahnsinn?« zischte sie und sprang auf. »Unter meinem Befehl wird es nichts dergleichen geben!« Sie deutete auf den Zwerg, der zuletzt gesprochen hatte, dann auf Bollis. »Ihr beiden, steht auf!«
Die Krieger sprangen blitzschnell auf die Füße.
»Ich habe etwas verloren«, sagte Grimma schneidend. »Heute nachmittag, als wir durch dieses Wasserloch gewatet sind. Es ist ein Siegelring König Thorhâls. Ihr zwei werdet zurückgehen und ihn suchen. Wenn ihr stramm durchmarschiert, solltet ihr am Morgen wieder bei uns sein.«
Sie hatte nie einen solchen Ring besessen, und jeder ihrer Krieger wußte das. Der Zwerg vom Nebenfeuer wollte aufbegehren, doch Bollis schlug ihm hart gegen die Schulter. »Du hast gehört, was Grimma gesagt hat. Gehen wir!« Der Zwerg straffte sich einen Moment lang, dann nickte er verdattert. Wenig später waren die beiden in der Düsternis verschwunden.
Grimma drehte sich um und ging hinüber zu Styrmir. Sie spürte, wie ihr die Blicke aller anderen folgten, dann hörte sie zufrieden, daß Egil die Krieger anschnauzte, sich gefälligst nur um das zu kümmern, was sie etwas anginge.
Styrmir schaute ihr finster, aber auch voller Neugier entgegen. Spielte da ein leises Lächeln um seine Lippen? Grimma wünschte sich, ihn im Dämmerlicht besser erkennen zu können. Als sie näher kam, klappte er das Büchlein zu, verkorkte sein Tintenfaß und legte beides zusammen mit der Feder in den Rucksack.
Grimma setzte sich ohne Aufforderung zu ihm. So weit von den Feuern entfernt spürte sie die Kälte noch deutlicher, und sie fragte sich, ob ihre Strafe für Bollis und den anderen Krieger nicht zu hart gewesen war. Aber nein, sie hatte richtig gehandelt. Sie durfte nicht zulassen, daß ihre Männer auf solche Gedanken kamen, geschweige denn sie aussprachen.
»Deine Krieger haben es nicht leicht mit dir«, bemerkte Styrmir, und jetzt sah sie, daß tatsächlich ein Schmunzeln um seine Mundwinkel zuckte. Seine glatte Haut und das bartlose, tätowierte Kinn konnten nicht darüber hinwegtäuschen, daß er den kantigen Unterkiefer und die markanten Züge seiner Ahnen geerbt hatte.
»Die beiden hatten Strafe verdient«, sagte sie und blickte fest in seine braunen Augen. »Ich werde nicht zusehen, wie irgendein dummer Zwist diese Truppe spaltet.«