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Sie sangen den ganzen Tag, und einige sangen noch abends am Feuer, als der Rest von ihnen schon schlief. Styrmir hatte sich erneut zurückgezogen, beugte sich über sein Buch, und er schrieb nieder, was der Tag ihnen gebracht hatte: neue Hoffnung, Lebensmut und, für ihn selbst zum erstenmal, einen leisen Hauch von Gemeinsamkeit.

KAPITEL 4

Alberich versammelte die anderen in der Eingangshalle. Es war früh am Morgen. Sie alle waren unausgeschlafen und übellaunig. Geist und Löwenzahn wegen ihres anstrengenden Ausflugs in die Mooshöhle; Mütterchen Mitternacht, weil sie Alberichs Wache am Tor übernommen hatte; und Alberich selbst - ja, das wußte keiner der anderen so genau.

Der Saal, viele Mannslängen hoch, wurde von dem gewaltigen Eisenportal beherrscht. An beiden Seitenwänden standen mächtige Statuen, vier zur Rechten, vier zur Linken, turmhohe Darstellungen von Zwergen in Rüstungen, bewaffnet mit Äxten und Streitkolben. Als stumme Torwächter blickten sie aus Granitaugen zum Boden der Halle herab. Mütterchen hatte stets den Eindruck, als folgten ihre leblosen Blicke jeder ihrer Bewegungen. Besonders schlimm war es während der Nachtwache, wenn sie allein im Dunkeln kauerte. Meist saß sie dabei in Decken gehüllt am Tor und blickte abwechselnd durch den Sehschlitz ins Freie, dann wieder hinauf zu den steinernen Gesichtern. Im Grunde war es fast albern, daß sich ausgerechnet die Zwerge als Riesen dargestellt hatten, und doch hatte Mütterchen nie über diesen Umstand lachen können. Viel zu sehr beunruhigte sie die schweigsame Starre der acht Granitgiganten, und sie wußte, daß es Geist und sogar Löwenzahn genauso erging.

Alberich berichtete ausführlich, was ihm in der Nacht widerfahren war, und je eingehender er versuchte, sich an jede Einzelheit zu erinnern, desto zorniger wurde er. Schließlich schnaubte er beim Sprechen so sehr, daß Geist und Mütterchen ihn erst einmal durch besänftigendes Zureden beruhigen mußten, ehe er fortfahren konnte.

Nachdem Alberich zum Ende gekommen war, platzte es übermütig aus Löwenzahn heraus: »Es ist doch ganz einfach! Wir gehen runter, suchen alles ab und erschlagen jeden Zwergling, der uns über den Weg läuft!«

Mütterchen faßte sich ob so wenig Taktgefühl an die Stirn, Geist blickte verlegen zu Boden, und Alberich sah aus, als würde ihm vor Wut gleich der Schädel platzen.

»Dummkopf!« tobte er mit hochrotem Gesicht. »Du blöder, halbhunnischer Dummkopf!« Alberich haßte es, wenn Löwenzahn ihn oder einen anderen seines Volkes Zwergling nannte, doch diesmal machte ihn etwas ganz anderes wütend. »Seit zweihundert Jahren gibt es außer mir keinen Zwerg mehr im Hohlen Berg, ach, was sag’ ich, im ganzen Land! Und du willst hingehen und einfach jeden erschlagen, der drei Köpfe kleiner ist als du!« Seine Augen glühten vor Wut, als wollten sie gleich in Flammen aufgehen.

Löwenzahn grinste. »Nicht jeden«, sagte er mit einem Seitenblick auf Geist. »Nur alle, die Zipfelmützen und Bärte tragen.«

Alberichs Gesichtsfarbe schien von Rot zu Violett zu wechseln, und Mütterchen sah sich genötigt, einzuschreiten. Löwenzahn liebte es, den Zwerg mit seinen Sticheleien zur Weißglut zu bringen. Entschlossen trat sie zwischen die beiden Streithähne.

»Schluß jetzt!« verlangte sie scharf und gab sich den Anschein der würdevollen Schlichterin. Geist grinste verhalten.

»Alberich hat recht«, sagte Mütterchen. »Wir sollten uns genau überlegen, wie wir vorgehen wollen. Wir wissen nicht, wie dieser Zwerg in den Berg gelangt ist, aber wir sollten besser davon ausgehen, daß dort, wo er herkommt, noch weitere von seiner Sorte... verzeih, Alberich, von seinem Volke sind.«

Geist zupfte gedankenverloren an einem kleinen Farnwedel, der zwischen ihren flachen Brüsten wuchs. Die Bewegung irritierte Mütterchen; gestern war das Blatt noch nicht dagewesen. Die Magie, die in dem zarten Moosfräulein schlummerte, war gewaltig. Geist wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte, und so beschränkte sie sich darauf, ihre Macht an Spielereien wie bunte Blüten und wuchernde Blätter zu verschwenden.

Heute aber sah das Moosfräulein aus, als beschäftige es irgend etwas ganz Bestimmtes, und dabei schien es sich keineswegs um Alberichs Erlebnis zu handeln.

»Was ist los?« fragte Mütterchen.

»Ich wollte heute ohnehin nach unten gehen«, sagte Geist, ohne sie anzusehen. »Auf dem Weg könnte ich ja die Augen offenhalten.« Es war klar, daß sie nur eine Ausrede suchte, wieder hinab in die Mooshöhle zu klettern. Löwenzahn hatte Mütterchen gleich nach dem Aufstehen davon erzählt, als sie sich an einer Felsquelle nahe ihrer Schlafquartiere gewaschen hatten. Es beunruhigte die alte Räuberin ein wenig, daß Geist den Ernst der Lage offenbar nicht einzuschätzen wußte.

»Niemand geht allein irgendwohin!« entschied Alberich in jenem überflüssigen Befehlston, den er selbst so liebte, der aber die Geduld aller anderen aufs äußerste strapazierte. Auch nach zwei Jahren hatte er noch immer nicht bemerkt, daß er damit den Widerspruch seiner Gefährten regelrecht herausforderte, begründet oder nicht. Auch jetzt prasselte von drei Seiten gleichzeitig eine Flut von Bemerkungen, Vorschlägen und trotzigen Entgegnungen auf ihn ein, bis er grimmig die Arme vor der Brust verschränkte und die Stirn runzelte, so daß er kaum noch unter seinen buschigen Augenbrauen hervorschauen konnte. Beleidigt kniff er die Lippen zusammen und schwieg.

Stur wie ein alter Ziegenbock, dachte Mütterchen seufzend.

»Also«, begann sie von neuem. »Hat irgend jemand einen Einfall, wo wir mit der Suche beginnen sollen? Darauf läuft es doch hinaus, oder?«

Löwenzahn knetete nachdenklich sein Kinn. »Wenn wir davon ausgehen, daß alle Zwerglinge so goldgierig sind wie unser Freund hier, dann sollten wir es wohl zuerst beim Hort versuchen.«

Alberich rümpfte pikiert die Nase und zog es weiterhin vor zu schmollen.

Auch Geist sagte nichts. Ihr bildhübschen blauen Augen glänzten traurig.

»Ich denke, Löwenzahn hat recht«, sagte Mütterchen. »Die Horthalle scheint mir ein guter Anfang zu sein. Irgendwelche Einwände?«

»Wir werden einen ganzen Tag brauchen, ehe wir dort unten ankommen«, gab Alberich finster zu bedenken.

»Wir wissen, daß du es nicht magst, wenn wir in die Nähe deiner Schätze gehen, Freund Alberich«, gab Mütterchen lächelnd zurück. »Aber ich fürchte, dieses eine Mal wirst du deinen Widerwillen überwinden müssen.«, Löwenzahn hatte einmal versucht, einen goldenen Harnisch anzulegen, den er am Rand des Hortes gefunden hatte, und Alberich trug ihm noch heute nach, was er damals einen dreisten Diebstahl genannt hatte, ganz wie man ihn von einem räuberischen Hunnenbastard erwarten mußte. Dabei war Mütterchen sicher, daß Alberich den ungeschickten Löwenzahn tiefer ins Herz geschlossen hatte, als er je zugeben würde. Ein Glück, daß der bärenstarke Halbhunne so gutmütig wie Obbos braves Pony war; jeder andere hätte dem jähzornigen Zwerg wahrscheinlich längst den Dickschädel eingeschlagen.

»Die Horthalle also!« sagte sie entschieden, und damit war es beschlossene Sache. Geist und Löwenzahn bekamen die Aufgabe, Vorräte für mehrere Tage einzupacken, während sie und der Horthüter noch einmal die alten Zwergenkarten der unteren Ebenen durchsehen wollten. Zwar behauptete Alberich, jeden Winkel des Berges in- und auswendig zu kennen, doch sogar er gab zu, daß es vielleicht keine dumme Idee war, seine Erinnerung noch einmal aufzufrischen.