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Zuletzt verriegelten sie den Sehschlitz des Portals und ließen an einem Seilzug zwei große Glocken herab, die auf halber Höhe an die Innenseiten der Torflügel stießen. Sollte jemand versuchen, von außen den Eingang aufzurammen, würde das Läuten der Glocken bis in die tiefsten Stollen der Zwergenminen schallen.

Bald darauf machten sie sich auf den Weg in die Tiefe. Alberich, Löwenzahn und Mütterchen waren bis an die Zähne gerüstet, nur Geist lehnte wie üblich jede Bewaffnung ab. Sie ritt auf Löwenzahns breiten Schultern wie ein Kind, während aus ihrem Hinterkopf die Ranke einer Trauerweide sproß.

Es dauerte einen halben Tag, ehe sie das Tor der Horthalle erreichten. Es war ein hohes, doppelflügeliges Portal, ganz ähnlich jenem am Einstieg des Berges. Eine Vielzahl altertümlicher Runen war in die Oberfläche eingelassen, und nicht zum erstenmal fragte sich Mütterchen, ob Alberich sie wohl zu entziffern vermochte. Sie selbst konnte zwar lesen und schreiben, doch die alte Zwergenschrift war ihr unbekannt. Gerade wollte sie Alberich danach fragen, als Geist sich schüttelte.

»Wir sind nicht allein hier unten«, flüsterte das Moosfräulein. Es saß immer noch auf Löwenzahns Schultern, ohne daß der Krieger eine Spur von Erschöpfung zeigte.

»Wie meint du das?« Mütterchen hatte die Frage kaum ausgesprochen, da kam sie ihr schon überflüssig vor. Alarmiert wechselte sie ihren Wanderstab in die linke Hand und zog mit der Rechten ihr Schwert. Sichernd schaute sie in die Mündungen der drei Gänge, die sich vor dem Portal der Horthalle trafen.

»Ich spüre etwas«, wisperte Geist. Sie hatte jetzt die Augen geschlossen und streckte mit Hilfe der Drachenmagie unsichtbare Fühler in die Umgebung aus. Der armlange Weidenzweig in ihrem Nacken peitschte wie der Schwanz eines aufgeregten Hundes.

Alberich grummelte etwas und packte die Ketten seiner Goldgeißel, damit die Kugeln nicht zusammenstießen und mit ihrem Klirren Geists Konzentration störten.

Plötzlich ging ein Ruck durch Geists schmalen Körper, sie sprang von Löwenzahns Schultern und rief: »Kommt mit! Schnell!« Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da verschwand sie schon im nördlichen der drei Gänge. Der Boden war hier leicht abschüssig und machte nach dreißig oder vierzig Schritten eine leichte Linksbiegung.

»Wo läuft sie denn hin?« fragte der Zwerg verblüfft, doch Mütterchen und Löwenzahn hatten sich bereits in Bewegung gesetzt und folgten dem Moosfräulein.

»Steh nicht rum«, rief Mütterchen über die Schulter, »und tu schon, was sie sagt!«

Für Mütterchens alte Augen reichte das Zwielicht des Hohlen Berges nicht weiter als fünfzehn Schritte, dahinter verschmolz alles in trüber Düsternis. Löwenzahn mochte ein wenig besser sehen als sie, wenn auch lange nicht so gut wie Alberich. Doch selbst der Zwerg gab bald zu, daß er Geist aus den Augen verloren hatte.

Mütterchen wunderte sich. Sie hatten ausgemacht, sich vorerst nicht zu trennen, und um so mehr verblüffte sie, daß Geist sich so leichtsinnig von ihnen entfernt hatte. Irgend etwas hatte das Moosfräulein alle Vorsicht vergessen lassen.

»Wohin führt dieser Gang?« fragte sie im Laufen.

Alberich atmete angestrengt ein und aus. »Er geht irgendwann in einen Treppenschacht über, der in den unteren Grotten endet.«

»Was für Grotten sind das?« wollte Löwenzahn wissen.

»Es gibt dort unten einen See, in dem sich das Wasser aus dem ganzen Berg sammelt.«

Mütterchen und Löwenzahn wechselten einen Blick. »Glaubst du...?« begann die Räuberin.

Der Krieger nickte. »Das wird es sein.«

Alberich hatte Mühe, mit den langen Beinen der beiden anderen mitzuhalten, sogar mit Mütterchen, der ihr Alter mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen wollte. »Könntet ihr mir verraten, wovon ihr sprecht?« fragte der Zwerg.

Mütterchen erklärte ihm Geists Entdeckung in wenigen Worten, und Löwenzahn nickte bestätigend, ohne seine Geschwindigkeit zu verlangsamen.

Mütterchen überlegte. »Wenn das, was Geist gespürt hat, sie derart aufregt, daß sie sogar ohne uns dorthinläuft, muß es etwas sein, das -«

Löwenzahn unterbrach sie, und Schrecken überzog seine Züge wie eine Maske aus Eis: »Etwas, das den Pflanzen schadet!« Und mit diesen Worten raste er los, und kein Zurufen der beiden anderen konnte ihn davon abhalten, sie hinter sich zu lassen. Bald war auch er hinter der Biegung des Felskorridors verschwunden.

»Sind denn plötzlich alle verrückt geworden?« fauchte Alberich. Diesmal sah Mütterchen keinen Grund, ihm zu widersprechen. Löwenzahns Sorge um Geist war begreiflich, doch es half niemandem, wenn er blindlings in eine Horde feinseliger Zwerge stolperte - falls es tatsächlich Zwerge waren und nicht etwas noch Schlimmeres. Mütterchen wußte selbst nicht, wie sie auf diesen Gedanken kam - verdammt, alles was sie entdeckt hatten, war ein einziger Zwerg! -, doch ihr Gefühl sagte ihr, daß es tödlich sein mochte, jetzt vorschnelle Schlüsse zu ziehen.

Wie Alberich vorausgesagt hatte, kamen sie nach einer Weile an den oberen Absatz einer steilen, schier ins Endlose abfallenden Treppe. Die Schachtdecke war sehr hoch, mehrere Mannslängen, dafür aber standen die Wände ungemein eng beieinander. Von Geist und Löwenzahn war nichts zu sehen, nur in weiter Ferne hörten sie das hallende Trommeln von Stiefelabsätzen auf den Stufen.

Die Treppe machte wie schon der Korridor eine leichte Biegung, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutete, daß sich ihr Verlauf vom Umriß der Horthalle löste. Allein die Vorstellung, all diese Stufen wieder hinaufsteigen zu müssen, ließ Mütterchens alte Knochen schmerzen.

»Es ist... nicht... mehr weit«, stammelte Alberich atemlos.

Bald erkannte Mütterchen in der Tiefe einen niedrigen Torbogen, kaum mehr als ein Spalt. Er war von etwas Dunkelgrünem ausgefüllt, möglicherweise von einem Vorhang oder, ja, tatsächlich, von einem Dickicht aus Pflanzen.

Mütterchen und Alberich erreichten den unteren Treppenabsatz und blieben mit vorgebeugten Oberkörpern stehen. Sie konnten nicht anders, sie mußten einen Augenblick lang verschnaufen.

Da ertönte von der anderen Seite des Pflanzenvorhangs ein metallisches Scheppern, und einen Wimpernschlag später stolperte Löwenzahn rückwärts in den Treppenschacht. Er hielt seinen gewaltigen Zweihänder fest umklammert, hatte allerdings viel zuwenig freien Raum, um ihn wirksam einzusetzen. Zwei Zwerge drängten hinter ihm durch das Dickicht und setzten ihm mit Äxten zu, die alt und schartig waren. Trotzdem führten die beiden sie mit solcher Kraft und soviel Geschick, daß Löwenzahn Mühe hatte, ihren Hieben zu entgehen.

Mütterchen wollte ihm zur Hilfe eilen, doch da klirrte schon Alberichs Goldgeißel, und mit einem wilden Aufschrei stürzte sich der graubärtige Horthüter auf die beiden jüngeren Zwergenkrieger. Er und Löwenzahn behinderten sich dabei gegenseitig, doch nicht einmal das hielt Alberich davon ab, einem seiner Gegner die goldenen Stachelkugeln mitten ins Gesicht zu wirbeln. Kreischend brach der getroffene Zwerg in die Knie, und einen Herzschlag später machte ihm Löwenzahns mächtige Klinge ein Ende.

Der zweite Zwerg sah seinen Gefährten sterben und zog sich durch den Rankenvorhang zurück in die Grotte. Löwenzahn und Alberich drängten hinterher. Für einen Augenblick war Mütterchen ganz allein in dem hohen Treppenschacht.

Sie wollte ihren Freunden gerade folgen, als ihr auffiel, daß die vorderen Stufen mit vertrockneten Algen und Moosen bedeckt waren; gleiches galt für die Wände. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, da mußte der untere Bereich der Treppe unter Wasser gestanden haben. Das wunderte Mütterchen zwar, erschien ihr im Moment aber nebensächlich. Sie schleuderte ihren Stab beiseite, packte ihr Schwert mit beiden Händen und sprang mit einem kühnen Kriegsruf durch die klammen Pflanzenfinger ins Innere der Grotte.