Keine zwei Schritte von ihr entfernt kämpften Alberich und Löwenzahn Seite an Seite gegen drei Zwerge, darunter jener, der im Treppenschacht vor ihnen zurückgewichen war. Zwei weitere Zwerge, so jung wie ihre Brüder und mit ebensolchen kränklichen, eingefallenen Gesichtern, standen bereit, um in den Kampf einzugreifen, falls einer der anderen verletzt wurde oder fiel. Als sie Mütterchen erblickten, zögerten sie nicht und stürmten mit Axt und stählernem Streitkolben auf sie ein. Der Räuberin blieb gerade noch genug Zeit, um Geist zu entdecken, die inmitten der Pflanzenranken unter der Decke hing wie eine Spinne im Netz. Sie mußte dort hinaufgeklettert sein, um den Axthieben ihrer Feinde zu entgehen. Ihre großen Augen schauten tiefunglücklich drein.
Mütterchen wußte, daß sie zu schwach war, um den Schlag zu parieren. Statt dessen sprang sie zurück, sah noch, wie der Stahlkopf des Kolbens den Fels vor ihren Füßen splittern ließ, dann taumelte sie nach hinten durch den Rankenvorhang in den Treppenschacht. Kaum war sie auf der anderen Seite, da wurden die Pflanzen schon von einem Axthieb zur Seite geschleudert. Mütterchens Gedanken rasten; die Zwerge würden einen Moment lang zögern, um zu sehen, ob ihre Gegnerin vor ihnen floh oder jenseits des Dickichts auf sie wartete. Bevor aber die beiden zwischen den Ranken hindurchtreten konnten, bohrte Mütterchen schon ihr Schwert in gerader Bahn nach vorne. Die Spitze fuhr durch die Pflanzenwand und drang in den Hals des Axtkriegers. Seine Waffe fiel scheppernd zu Boden, er stolperte zurück, die Klinge kam frei, und ein rauhes Röcheln drang aus der zerfetzten Kehle des Zwerges. Dann brach er zusammen, zuckte und starb.
Mütterchens Überraschungsmoment war damit verloren. Und schon stieg der zweite Zwerg über den Leichnam seines Kameraden hinweg, das Gesicht unter dem wuchernden Bart verzerrt vor Haß, den schweren Streitkolben mit beiden Händen zum Schlag erhoben. Mütterchen wich zurück und spürte, wie Panik sie überkam. Sie wußte, daß ihr Schwert unter dem ersten Anprall des Kolbens zersplittern würde. Sie war noch immer erschöpft vom langen Abstieg. Eine Flucht die Treppe hinauf kam nicht in Frage.
In einem Aufwallen von Todesmut - nicht zum erstenmal hätte sie damit ihr Leben gerettet - blieb sie stehen und stellte sich ihrem Feind entgegen. Der Zwerg schrie zornig auf, vielleicht um seinem Hieb noch mehr Kraft zu verleihen. Doch er machte den Fehler, nicht von oben herab, sondern seitwärts nach Mütterchen zu schlagen. Damit gab er ihr die Möglichkeit, unter dem Angriff hinwegzutauchen, was ihr mit einem schmerzerfüllten Ächzen gelang. Der Stahlkopf des Kolbens krachte in die Seitenwand des Treppenschachts, der Fels zerbarst, und ein Hagel aus Staub und Steinsplittern prasselte auf Mütterchen herab.
Sie führte einen blitzartigen Stich nach oben, in der Hoffnung, ihre Klinge von unten in den Schädel des Zwerges zu treiben. Doch ihr Gegner war schneller. Er sprang zurück, wich Mütterchens Attacke mühelos aus und holte abermals Schwung, um ihr mit dem Streitkolben den Schädel zu zertrümmern.
Mütterchen, immer noch in der Hocke, taumelte nach hinten, stieß mit der Ferse gegen die unterste Treppenstufe, suchte mit den Händen nach Halt, rutschte jedoch auf dem Algenteppich aus und verlor das Gleichgewicht. Ihr Rücken prallte auf die Kanten der Treppe, sie schrie auf, und vor ihren Augen explodierte ein Kranz aus Feuer. Sie glaubte, der Kolben hätte sie getroffen, und das Lodern und die tanzenden Lichter um sie herum seien die Vorboten des Todes. Dann aber klärte sich ihr Blick, und jemand streckte ihr eine riesenhafte Pranke entgegen. Löwenzahn! Mütterchen ließ sich von ihm aufhelfen und sah zugleich, daß der Zweihänder des Kriegers den Zwerg von hinten beinahe in zwei Hälften geschlagen hatte.
»Geist...«, stotterte sie mühsam, »und Alberich...«
»Den beiden geht es gut«, sagte Löwenzahn beschwichtigend und fügte ein wenig leiser hinzu: »Wenigstens glaube ich das.«
»Du glaubst!« fragte sie verwirrt und hatte immer noch Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
Er nickte. »Der Kampf ist vorbei. Du solltest dir das ansehen.«
Sie ließ sich von ihm durch den Pflanzenvorhang führen. Da begriff sie, was er meinte.
Die drei verbliebenen Zwerge standen aufrecht in der Mitte der Höhle - wenigstens nahm Mütterchen das so lange an, bis sie entdeckte, daß die Fußspitzen der drei einen Finger breit über dem Boden schwebten. Ihre Gesichter waren verzerrt, einem hing die Zunge blau angeschwollen aus dem Mund. Um ihre Hälse lagen Schlingen wie von Peitschensträngen, aus deren holziger Oberfläche winzige Blätter wuchsen. Die Enden der Schlingen führten geradewegs zur Decke empor, aus Zweigen geflochtene Henkersstricke.
Geist hing immer noch dort oben. Ihr Rücken und ihr Hinterkopf lagen flach am Fels, ihre abgespreizten Arme und Beine wurden von einem Netz aus Ranken an der Decke gehalten. Der Farnwedel zwischen ihren Brüsten war verschwunden. Statt seiner entsprangen aus ihrem Moospelz die drei Zweige, mit denen sie die Zwergenkrieger erdrosselt hatte. Geists Augen waren geschlossen, ihr Mund stand leicht offen, und es sah aus, als schliefe sie. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, während sich die Ranken raschelnd um ihre Arme und Beine wanden wie Schlangennester.
Alberich stand vor den drei toten Zwergen und starrte fassungslos hinauf zu dem Moosfräulein. »Wir müssen sie irgendwie runterholen«, flüsterte er, als hätte irgendwer das in Frage gestellt.
Löwenzahn vergewisserte sich, daß Mütterchen aus eigener Kraft stehen konnte, dann trat er vor, wobei er den Zweihänder über seine Schulter schwang. Auch er blickte an den drei Ranken empor zu Geist. Tiefe Sorge sprach aus seiner Miene.
»Vielleicht sollten wir die drei erst einmal losschneiden«, schlug Alberich unsicher vor.
Mütterchen humpelte aufgebracht auf ihn zu. »Du bist wahrlich ein zu kurz geratener Hornochse, Alberich Horthüter! Diese Ranken kommen aus Geists Körper! Wie würde es dir gefallen, wenn wir dir drei Finger abschneiden?«
»Aber es sind bloß Zweige!« widersprach er, obwohl Mütterchen ihm ansah, daß er Zweifel an seinen eigenen Worten hatte. »Ich meine, sie sind aus Holz und -«
»Nichts da!« widersprach Mütterchen. »Gar nichts wird hier durchgeschnitten!«
Je länger Löwenzahn Geists rankenumschlungenen Leib anstarrte, desto bleicher wurde sein Gesicht. »Trotzdem müssen wir irgendwas tun.«
Alberich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht fällt sie ja nach einer Weile von alleine runter.«
»Hoffentlich wenn du gerade drunterstehst!« entfuhr es Mütterchen lakonisch, und sie verdrehte dabei die Augen. »Manchmal frage ich mich ernsthaft, wie du jemals Hüter dieses Berges geworden bist.«
Zornig fuhr der Zwerg herum. »Ich habe es mir nicht ausgesucht, das kannst du mir glauben!«
Löwenzahn streckte vorsichtig die Finger aus und versuchte, die Schlinge am Hals eines der Zwerge zu lockern. Doch der Peitschenzweig zog sich unter der Berührung nur noch enger zusammen. Löwenzahn zuckte erschrocken zurück.
»Geist?« fragte er zaghaft. Bislang hatte noch keiner von ihnen versucht, das Moosfräulein anzusprechen.
Und tatsächlich, der einfachste Weg war der richtige. Geist schlug die Augen auf, als sie ihren Namen vernahm, und noch im selben Moment lösten sich die drei Schlingen mit einem blitzschnellen Ruck. Alberich und Löwenzahn traten eilig einen Schritt zurück, als die Toten polternd zu Boden fielen. Das Moosfräulein löste den Kopf von der Decke und sah an sich herab zu ihren Füßen. Wie auf ein stummes Kommando lösten sich die Ranken an ihren Fußgelenken, und wenige Herzschläge später baumelte Geist nur noch mit den Händen an der Decke. Löwenzahn fing sie sanft auf, als sich die Schlingen auch von ihren Fingern und Handgelenken zurückzogen.