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»Laß mich bitte runter«, bat sie und lächelte den Hunnenkrieger zaghaft an. Löwenzahn hob eine Augenbraue, im Zweifel, ob sie wirklich kräftig genug war, um stehen zu können, erfüllte ihr dann aber den Wunsch.

Geist schwankte ein wenig, fand jedoch schließlich ihr Gleichgewicht wieder. Jetzt erst blickte sie auf die drei Leichen herab.

»War ich das?« fragte sie betroffen. Zugleich huschte ein Schatten über ihre Züge, als bekäme sie plötzlich Angst vor sich selbst.

Mütterchen legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du hast uns das Leben gerettet«, sagte sie stolz.

Geist konnte ihren Blick nicht von den Toten nehmen. »Ich wußte nicht... ich meine, ich hatte ja keine Ahnung, daß ich...!«

»Das hatte wohl keiner von uns«, meinte Alberich düster.

Mütterchen sah ihn streng an, sagte aber nichts.

Die drei Ranken aus Geists Brust baumelten an ihrem Körper herab und ringelten sich auf dem feuchten Felsboden. Das Moosfräulein hob eine Hand und streichelte zärtlich darüber, und wenig später zogen sich die Zweige zurück, wurden kürzer und verschwanden schließlich völlig zwischen ihren Brüsten.

»Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte«, begann Löwenzahn, führte den Satz aber nie zu Ende, denn Mütterchen sagte laut: »Ich glaube, wir sollten allmählich herausfinden, wo diese Kerle hergekommen sind.«

Alberich nickte hastig, offenbar dankbar, daß ihn jemand von Geists gespenstischen Fähigkeiten ablenkte.

Löwenzahn sagte: »Es gibt noch eine größere Grotte, gleich nebenan.« Er deutete auf die Öffnung, durch die Geist und er am Vortag hereingekommen waren. Das Rauschen der Wasserstrahlen, die sich dort aus den Kanallöchern in den See ergossen, schien schlagartig an Lautstärke zuzunehmen, als hätte das Geräusch nur darauf gewartet, endlich wahrgenommen zu werden.

Alberich packte entschlossen seine Axt und ging voran, ihm folgten Löwenzahn, dann Geist und zuletzt Mütterchen. Als sie schließlich alle auf der Felsscholle standen, die sich über einen Teil des unterirdischen Sees erstreckte, schüttelte der Zwerg nachdenklich den Kopf.

»Früher war der Wasserspiegel viel höher«, meinte er mißtrauisch.

Mütterchen fiel ihre Beobachtung im Treppenschacht ein. »Auch die Stufen standen bis vor kurzem unter Wasser.«

Alberich nickte und deutete über den See. »Der Strudel war beim letztenmal, als ich hier war, noch nicht da.«

»Wie lange ist das her?« fragte Mütterchen.

Er hob unsicher die Schultern. »Acht, neun Jahre.«

»In der Zeit kann hier unten viel geschehen sein«, meinte Löwenzahn.

Mütterchen trat auf ihren Stab gestützt näher an den Rand der Scholle. »Unter dem Fels ist ein Hohlraum«, stellte sie fest. »Der See geht darunter weiter.«

Löwenzahn stimmte zu. »Gestern, als Geist und ich hier unten waren, dachte ich, ich hätte jemanden gesehen. Er sprang vor meinen Augen ins Wasser und verschwand.«

Alberich schlug sich fassungslos vor die Stirn. »Und das erzählst du uns erst jetzt?«

»Ich hab’s Mütterchen erzählt«, verteidigte sich der Krieger.

»Das stimmt«, sagte die Räuberin grübelnd. »Aber seit wann haben Zwerge Kiemen?«

»Zwerge hassen das Wasser«, knurrte Alberich, verärgert, daß man ihm Löwenzahns Beobachtung bisher vorenthalten hatte.

Geist mischte sich ein. »Er könnte sich unter dem Felsen versteckt haben, bis Löwenzahn und ich wieder fort waren. Wenn es wirklich einen schmalen Hohlraum zwischen Stein und Wasser gibt, hätte er dort atmen können.«

»Trotzdem wissen wir noch immer nicht, woher all diese Zwerge plötzlich kommen«, sagte Mütterchen.

»Und was sie hier wollen«, fügte Alberich hinzu.

Löwenzahn rollte mit den Augen. »Natürlich das, was alle wollen.«

»Das Gold«, stimmte Mütterchen zu.

»Dann sollten wir uns endlich die Horthalle ansehen«, meinte Löwenzahn, wollte sich abwenden und zurück in die Nebengrotte gehen. Da fiel sein Blick auf Geist. Das Moosfräulein war an eine der Wände getreten, auf der anderen Seite des begehbaren Teils der Höhle. Im Dämmerlicht verschmolz sie beinahe völlig mit dem moos- und algenbedeckten Hintergrund.

»Das war es also, was ich gespürt habe«, sagte sie leise, ohne sich zu den anderen umzudrehen.

Sogleich eilten die anderen zu ihr und blickten verwundert auf eine Stelle an der Wand, etwa zwei mal zwei Schritte groß, an der die fünf Zwerge den Pflanzenbelag zerschnitten und abgeschabt hatten.

»Das hast du gespürt?« fragte Löwenzahn staunend.

Geist nickte stumm.

»Warum haben sie das getan?« wunderte sich Mütterchen.

Alberich deutete ein Stück nach rechts. Dort lehnten im Schatten eines Vorsprungs sechs Spitzhacken an der Wand, außerdem mehrere Hämmer, Meißel und andere Arbeitsutensilien der Zwerge. »Sie wollten einen Stollen graben«, stellte er fest und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Oder einen Durchbruch«, fügte Mütterchen hinzu.

Der Zwerg starrte sie aus großen Augen an. »Unmöglich! Es gibt dahinter nur massiven Fels, keinen Hohlraum.«

Mütterchen winkte ab. »Wie Löwenzahn schon richtig erkannt hat: Seit du zuletzt hier unten warst, kann vieles geschehen sein.« Sie deutete auf den Strudel, der das Wasser in eine Öffnung riß, die, laut Alberich, vor einigen Jahren noch nicht existiert hatte. »Ich fürchte, mein Freund«, sagte sie unheilschwanger, »irgendwer ist schon seit längerer Zeit dabei, deinen Berg zu untergraben.«

Alberichs Lippen bebten. Er brachte vor Erschütterung kein Wort heraus.

»Sag«, meinte Mütterchen und zeigte auf die Stelle, an der die Zwerge die Pflanzen entfernt hatten, »was liegt in dieser Richtung?« Sie ahnte die Antwort bereits, bevor Alberich endlich die Kraft fand, die beiden Worte auszusprechen.

»Die Horthalle«, sagte er heiser.

Mütterchen trat an Alberichs Seite durch das hohe Portal und wappnete sich für den schlimmsten aller Anblicke: Dutzende Zwerge, die mit Kisten und Säcken wie Ameisen über die Schätze der Nibelungen schwärmten.

Als sie von der kleinen, geländerlosen Plattform im oberen Teil der Hallenwand hinab in die Tiefe blickte, blendete sie das Glitzern und Funkeln des Hortes wie der Feuerstoß eines Drachen. Erst als sich ihre Augen an die unnatürliche Helligkeit gewöhnten, erkannte sie erleichtert, daß ihre Sorge unbegründet war. Zwar war es unmöglich, von so hoch oben Einzelheiten zu erkennen, doch jedes Lebewesen, das sich dort unten aufhielt, hätte sich von der unermeßlichen Pracht des Schatzes abheben müssen wie eine Regenwolke vom Sommerhimmel.

Die Halle war rund und so weitläufig, daß die gegenüberliegende Seite nur schwer auszumachen war. Aus der Tiefe funkelte der Goldglanz des Hortes empor und schien die unteren Regionen der Halle mit einem Dunst aus purem Licht zu erfüllen. Eine Wendeltreppe schlängelte sich spiralförmig um die Wände. Beim ersten und einzigen Mal, daß Alberich Mütterchen und die beiden anderen mit hinab zur Oberfläche des Hortes genommen hatte, waren sie am Mittag von der Portalplattform aufgebrochen und hatten am frühen Abend den Fuß der Treppe erreicht. Es war ein langer, eintöniger Marsch, und noch dazu ein Wagnis, denn die Treppe war schmal und besaß auf ihre gesamten Länge kein Geländer. Die Gefahr, nach innen abzustürzen, war groß, wenn man die Stufen nicht ruhig und mit Bedacht hinabstieg. Unter der Decke der Halle, genau in der Mitte, hing ein beschädigter Seilzug, mit dem einst die Schätze nach unten transportiert worden waren. Die Holzbrücke, die ihn früher mit der Plattform verbunden hatte, war schon vor langer Zeit eingestürzt.