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»Niemand hier«, bemerkte Löwenzahn ohne jede Spur von Erleichterung. Er hatte sich bereits auf einen weiteren Kampf gefreut.

Alberich dagegen war anzusehen, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er wollte etwas sagen, doch Mütterchen kam ihm zuvor.

»Noch ist niemand hier«, meinte sie, »aber das könnte sich bald ändern. Hört ihr das?«

Ein dumpfes Knirschen und Schleifen ertönte, ohne daß jemand hätte sagen können, woher es rührte. Es kam von irgendwo aus dem Inneren der Felsen.

»Da sind noch mehr von ihnen«, fuhr Mütterchen fort. »Und wer weiß, wie lange sie noch brauchen, um bis zur Halle durchzubrechen.«

»Aber wo kommen die her?« fragte Löwenzahn. »Zwerge sind doch keine Pilze, die einfach aus dem Boden schießen.« Grinsend fügte er hinzu: »Auch wenn sie mit ihren Mützen so aussehen.«

Alberichs Gesicht schien mit jedem Atemzug die Farbe zu wechseln, doch das hatte nichts mit Löwenzahns Bemerkung zu tun. Seine faltigen Züge waren mal bleich wie die Leichen der erdrosselten Zwerge, mal hochrot vor Zorn und Hilflosigkeit. »Von unten«, sagte er mit schwerer Zunge. »Sie kommen von unten.«

»Aber ich denke, da ist nichts?« wandte Mütterchen ein, schaute ihn dabei jedoch neugierig, fast ein wenig argwöhnisch an.

»Es gibt nur diese Möglichkeit«, stieß Alberich atemlos hervor. »Sie müssen über die alte Zwergenstraße gekommen sein.«

»Alte Zwergenstraße?« fragte Geist. »Was ist das?«

Auch Löwenzahn und Mütterchen blickten verständnislos.

»Ein Tunnel«, sagte er, und jeder merkte ihm an, daß ihm im Augenblick nicht nach weitschweifigen Erklärungen zumute war. »Er führt durch die Tiefen der Erde hinauf ins Nordland. Vor gut zweihundert Jahren zog das Volk vom Hohlen Berg über die alte Zwergenstraße zurück in seine frühere Heimat, dorthin, von wo aus unsere Ahnen einst nach Süden aufgebrochen waren.«

»Du meinst, es gibt einen Tunnel unter dem Hohlen Berg?« fragte Mütterchen verblüfft, aber auch ein wenig verärgert, daß Alberich ihnen erst jetzt davon erzählte.

»Niemand kennt den Einstieg«, verteidigte sich der Zwerg.

»Abgesehen von dir, natürlich«, brummte Löwenzahn.

»Ich bin der Hüter des Hortes!« fuhr Alberich ihn an. Falls er weihevoll klingen wollte, so mißlang es ihm in der Hitze seiner Erregung. »Natürlich kenne ich den Einstieg! Aber außer mir weiß keiner davon.«

»Nun«, meinte Mütterchen, »offenbar ist vor zweihundert Jahren ein ganzes Volk hindurchgezogen. So alt wie ihr Zwerge werdet, liegt das höchstens zwei Generationen zurück, nicht wahr?«

Alberich nickte verdrossen.

Geist riß vor Staunen den Mund auf. »Heißt das, die Zwerge kehren zurück?«

»Möglich«, sagte Mütterchen grübelnd. »Aber ich glaube eher, daß es sich nur um einige wenige handelt. Eine Bande höchstens zwei, drei Dutzend.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Löwenzahn.

»Wenn es ein ganzes Volk wäre oder eine Armee, dann hätten wir in der Wassergrotte gewiß mehr als nur diese sechs angetroffen.« Sie wandte sich an Alberich. »Wo genau befindet sich der Einstieg zur Zwergenstraße?«

»Das darf ich nicht sagen!«

»Wir sind deine Freunde!« entfuhr es Mütterchen aufgebracht.

»Ihr seid keine Zwerge«, meinte er beharrlich, wagte aber nicht, der Räuberin dabei in die Augen zu blicken.

Löwenzahn wollte auffahren, doch Mütterchen schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wie du meinst, Horthüter«, sagte sie zu Alberich. Und damit drehte sie sich zum Portal um und ging davon.

»Wo willst du denn hin?« rief Alberich ihr hinterher.

Löwenzahn schenkte ihm einen finsteren Blick, und sogar Geist sah verärgert aus. Beide machten sich wortlos auf, Mütterchen zu folgen.

Alberich stand einen Augenblick lang da wie versteinert, dann setzte er sich in Bewegung. Wild gestikulierend überholte er die beiden, lief hinaus auf den Gang und hielt Mütterchen am Ärmel ihres Gewandes fest. Widerwillig blieb sie stehen, während die beiden anderen aufholten. Alberich stellte sich ihnen in den Weg, mit hängenden Schultern und schuldbewußter Miene. Nach Worten ringend trat er von einem Fuß auf den anderen.

»Ihr könnt das nicht verstehen«, murmelte er fahrig.

»Du vertraust uns nicht, das verstehen wir sehr wohl«, gab Mütterchen zornig zurück. »Wir sind keine Zwerge, das ist wahr, und ich bin heilfroh darüber. Und doch haben wir zwei Jahre lang für dich und das Vermächtnis deines Volkes gekämpft. Hast du das vergessen?«

»Was für eine Frage!« gab er aufgebracht zurück. »Nichts ist vergessen, und nichts wird jemals vergessen sein. Mein Volk« - er verbesserte sich widerwillig - »ich werde euch immer dankbar sein.«

»Nicht dankbar genug, uns ins Vertrauen zu ziehen«, sagte Löwenzahn. Geist an seiner Seite schwieg, nickte nur langsam. Ganz andere Gedanken beschäftigten sie. Noch immer war sie im Zweifel über sich selbst und ihre Fähigkeiten.

Ein Feuerwerk aus Gefühlen und Regungen spiegelte sich auf Alberichs faltigen Zügen wieder. Sein Ringen mit sich selbst blieb den Gefährten nicht verborgen. Mütterchen und die anderen warteten geduldig ab, bis er neuerlich das Wort ergriff.

»Gut«, sagte er schließlich, und plötzlich klang seine Stimme wieder fest und entschlossen, wie sie es von ihm gewohnt waren. »Ich werde euch alles erzählen. Laßt uns hinuntergehen zum Hort, und auf dem Weg dorthin sollt ihr erfahren, was damals geschah, beim letzten Mal, als der Zugang zur alten Zwergenstraße geöffnet wurde.«

Mütterchen und Löwenzahn wechselten einen Blick, dann nickte die Räuberin. »Alles?« fragte sie den Zwerg mit hochgezogener Augenbraue.

Er brummte etwas Unverständliches, dann sagte er: »Alles!«

So brachen sie auf und traten zum zweiten Mal an diesem Tag durch das Portal auf die Plattform über dem Nibelungenhort. Abermals schlug sie der überwältigende Goldglanz aus der Tiefe in seinen Bann, doch diesmal verharrten sie nicht angesichts dieses Anblicks. Was immer ihnen zu tun blieb, mußte sehr schnell getan werden. Alberich betrat als erster die schmale Treppe in der Wand der Halle, Mütterchen, Geist und Löwenzahn folgten ihm. Die Stufen waren zu schmal, um zu mehreren oder auch nur zu zweit nebeneinander zu gehen, und so machten sie sich hintereinander auf den Weg. Ein kühler Luftzug spielte in ihrem Haar, in Alberichs Bart und im Fellbesatz von Löwenzahns Rüstzeug. Es roch anders als in den übrigen Sälen und Fluren des Berges, nicht feucht und modrig, sondern metallisch, fast wie Blut. Mütterchen hatte nicht gewußt, daß Gold einen eigenen Geruch besaß, aber sie hatte auch nie vor ihrer Zeit im Hohlen Berg solche Mengen davon auf einem Haufen gesehen. Sie fragte sich sorgenvoll, welche anderen neuen Erfahrungen ihnen der Abstieg in die Tiefe der Horthalle bringen würde.

Dann aber hob Alberich seine Stimme, und die Gedanken der anderen wandten sich dem zu, was er zu berichten hatte. »Vor zwei Jahrhunderten war der Hohle Berg ein Ort voller Leben. Kein zweites Zwergenvolk gab es südlich der Nordlande, das es zu solcher Blüte gebracht hatte. Hunderte, Tausende meiner Brüder und Schwestern bevölkerten die tiefen Hallen des Berges, sie schürften Gold und Silber und Erz in den Minen und fertigten daraus den prächtigsten Schatz, den je das Auge eines Sterblichen gesehen hat.

Doch das Volk vom Hohlen Berg war kein glückliches Volk, denn es war nicht sein eigener Herr, und der letzte König unter dem Berg, Thorhâl, war ein König ohne Macht. Die wahren Herrscher waren die Nibelungen, denen sich einer von Thorhâls Vorgängern verpflichtet hatte, und das Geschmeide, das die Zwerge schufen, fiel allein dem Fürsten Nibelung und seinen Erben anheim. Meine Vorfahren trugen keine Sklavenketten, und es gab keine Wächter oder Aufseher im Hohlen Berg; und doch fesselte der Eid des alten Königs die Zwerge fester an die Faust der Nibelungen als jeder Reif aus Stahl und jede schmiedeeiserne Kette. Vergessen war der Zugang zur alten Zwergenstraße, durch die vor Urzeiten die ersten Zwerge aus dem Nordland zum Hohlen Berg gekommen waren, und so lebten meine Vorfahren friedvoll, aber betrübt in diesen Hallen und mehrten den Reichtum der Nibelungenfürsten.