Da begab es sich eines Tages, daß Eindringlinge im Hohlen Berg gesichtet wurden, erst einzelne, dann immer mehr, bis schließlich eine ganze Heerschar aus den Tiefen heraufstieg und Krieg über mein Volk brachte. Nordlinge waren es, gewaltige Krieger, vielleicht den Menschen verwandt, vielleicht auch den Riesen, oder gar eine bösartige Kreuzung aus beiden. König Thorhâl und seine Kämpfer erkannten, daß die Nordlinge nur über einen einzigen Weg in den Berg gelangt sein konnten: Es mußte ihnen gelungen sein, die alte Zwergenstraße zu durchqueren, vom eisigen Nordland aus bis hierher, mitten ins Herz des Hohlen Berges. Sie hatten den vergessenen Zugang von unten aufgestoßen und waren geradewegs in Thorhâls Reich marschiert, und mit sich brachten sie Tod und Verderben. Ihr scharfer Stahl blitzte im Goldglanz des Hortes, und ihre Augen leuchteten vor Gier. So kamen sie über meine Vorfahren, und viele meiner Brüder fielen unter ihrem ersten Ansturm. Schlacht um Schlacht entbrannte in den Hallen des Berges, wochenlang wüteten die Kämpfe. Die Nibelungen weigerten sich einzugreifen, sie versperrten das Portal des Hohlen Berges von außen und warteten ab, wer als Sieger aus dem Krieg in der Tiefe hervorgehen würde. Seit Generationen hatten die Zwerge nicht mehr kämpfen müssen. Alles, was sie kannten, war die Arbeit in den Minen, das Schürfen nach Gold, das nicht ihnen gehörte. Die Hälfte der Zwergenarmee fiel im Kampf gegen die Nordlinge, und doch gelang es dem Rest, den Feind vernichtend zu schlagen. Hunderte Zwerge hatten ihr Leben gelassen, obwohl die Angreifer ihnen an Zahl weit unterlegen waren. Teile des Berges waren verschüttet, neue Durchbrüche und Höhlen entstanden, und trotz ihrer Verluste hatten die Zwerge zumindest einen Gewinn aus dem Krieg mit den Nordlingen gezogen: Ihr Wille zu kämpfen, ihr Wunsch nach Freiheit und Sieg war zurückgekehrt.
Da nun der Zugang zur Zwergenstraße wiederentdeckt war, faßte König Thorhâl den Beschluß, eine kleine Gruppe von Kriegern gen Norden zu schicken. Ihre Aufgabe sollte es sein, den Tunnel selbst, vor allem aber die Lage im Nordland zu erkunden. Gab es dort oben noch Zwerge, oder waren sie alle dem Haß der Nordlinge zum Opfer gefallen? Unterschied sich ihre Lebensweise von jener ihrer Verwandten im Hohlen Berg? Und mußte man mit Widerstand rechnen, wenn mit einemmal mehrere tausend Flüchtlinge aus dem Tunnel stiegen und einen Teil des alten Zwergenlandes zurückforderten?
Der Plan des Königs nämlich war es, den uralten Eid zu brechen, die Arbeit am Hort zu beenden und mit seinem ganzen Volk in die Heimat der Zwerge zurückzukehren.
Der König wählte eine Frau, um die Gruppe der Auserwählten anzuführen. Grimma war ihr Name, eine Heerführerin, mit der es kein anderer Krieger im Berg an Klugheit oder Kampfkraft aufnehmen konnte. Ihr zur Seite stellte er einige der besten Kämpfer des Reiches.
Wagemutig machte sich der Erkundungstrupp auf den Weg, und zum erstenmal seit Beginn der Nibelungenknechtschaft hallte wieder lauter Jubel durch die Flure und Säle des Berges. Vergessen geglaubte Lieder ertönten aus zahllosen Kehlen, die alten Instrumente wurden hervorgeholt, und Geschichten vom einstigen Ruhm des Zwergenvolkes machten die Runde. Jedermann war voller Hoffnung und Freude, und da war nicht einer, der bezweifelte, daß Grimmas Mission erfolgreich sein würde. Bald, so hoffte man, würde man dem Berg den Rücken kehren und dorthin gehen, wo es noch ein Leben in Freiheit gab, und Ehre und Reichtum im Überfluß.«
Mütterchen unterbrach Alberichs Redefluß. »Hat denn keiner daran gedacht, daß es gewiß einen guten Grund gab der die Zwerge dereinst veranlaßt hatte, das Nordland zu verlassen?«
»Im Jahr des Krieges mit den Nordlingen war ich noch nicht geboren«, erwiderte der Zwerg, ohne beim Abstieg die Treppe hinab innezuhalten, »und ich weiß nicht, ob sich jemand diese Frage gestellt hat. Aber Thorhâl war kein dummer König, und sicher hat er alle Möglichkeiten in Betracht gezogen.«
Mütterchen war damit keineswegs zufriedengestellt, doch Löwenzahn rief von hinten: »Erzähl schon weiter, Alberich! Wie erging es Grimma und ihren Männern? Was geschah dort unten im Tunnel?«
Der Horthüter räusperte sich würdevoll. »Groß waren die Mühen der Reisenden und verwegen ihre Abenteuer, ehe sie schließlich ans Ende der alten Zwergenstraße gelangten. Schon Tage zuvor wehte ihnen die Kälte der Nordlandgletscher entgegen, und die Wände des Tunnels waren mit Eis überzogen. Selbst die wärmste Kleidung vermochte den Frost nicht fernzuhalten. Doch obgleich sie alle froren und zitterten, glaubten sie mit aller Kraft an ihre Mission und an Thorhâls Plan. Vor allem Grimma verließ in keinem Augenblick der Mut. Wahrlich, sie war eine große Anführerin, eine, die nicht nur wußte, wie man gegen Schwerter und Äxte kämpft, sondern auch gegen schwindende Hoffnung und die Wut der Elemente.« Alberich verstummte für einen Moment, und Mütterchen glaubte schon, er wollte nicht fortfahren. Doch der Zwerg holte tief Luft, und als er weitersprach, verriet seine Stimme, wie sehr ihn der Gedanke an die vergangenen Heldentaten bewegte. Er klang sanft, fast traurig, als er sagte: »Grimma war nicht wie die anderen, und jeder ihrer Begleiter wußte das. Von ihren Männern wurde sie verehrt und gefürchtet zugleich, ganz so, wie es sich jeder Hauptmann wünscht.«
Mütterchen fragte sich, woher Alberich, der sein ganzes Leben allein im Hohlen Berg verbracht und nie einen Hauptmann kennengelernt hatte, das wissen wollte. Doch schien ihr dies kein guter Augenblick für eine erneute Unterbrechung. Alberichs Stimme klang belegt, teilnahmsvoll. Beinahe so, als wüßte er besser Bescheid über die Geschehnisse von damals, als er zugeben wollte. Zum erstenmal beschlichen Mütterchen leise Zweifel, ob der Horthüter ihr und den anderen tatsächlich in allem die Wahrheit gesagt hatte. Über sich selbst, den Hohlen Berg und über das Verschwinden der Zwerge.
Alberich schwelgte immer noch im Lob für eine Kriegerin, die vor vielen Jahrzehnten gestorben sein mußte. Mütterchen drehte sich im Gehen irritiert zu Geist und Löwenzahn um. Das Moosfräulein zuckte nur mit den Schultern, und nicht einmal der Halbhunne wagte, Alberichs Hymne auf Grimma zu unterbrechen, so als spürte er instinktiv, daß es hier um weit mehr ging als nur um den Ruhm einer alten Zwergenheldin.
»Stark war Grimmas Axtarm«, sagte Alberich, »und weise ihr Zuspruch. Sie verdrängte die Kälte aus ihrem Körper und mit ihr die Angst vor dem, was sie im Nordland erwarten mochte. Kein anderer hätte den Trupp so weit führen können, und keinen hätte das, was später geschah, härter treffen können als sie.«
Abermals hielt er inne, und nachdem eine Weile lang das Klappern ihrer Schritte auf den Felsstufen der einzige Laut in der Halle gewesen war, fuhr er tonlos fort: »Grimma und ihre Männer erklommen die Steinrampe, die hinauf zum Ausstieg der Zwergenstraße führte, und weit über sich sahen sie den Himmel des Nordlandes, schwer von Wolken aus Schnee und Eis. Die Kälte biß durch ihre Kleidung, stach wie Pfeilspitzen in ihre Leiber, doch in diesem Augenblick war aller Schmerz vergessen. Sie waren am Ziel, endlich am Ziel, und sie hatten kaum mehr als fünf Monde dafür gebraucht. Es war eine Zeit voller Entbehrungen gewesen, eine Zeit des Hungers, der Kälte und der Einsamkeit im Dunkeln. Zwei von ihnen waren dabei auf der Strecke geblieben, zwei weitere konnten vor Erschöpfung kaum mehr laufen. Jetzt aber, da das Nordland in greifbarer Nähe lag, waren das Elend und die Qual des Weges vergessen, und vor sich glaubten sie die Zukunft ihres Volkes, die lang ersehnte Freiheit.
Sie erreichten den Rand der Öffnung und sahen, daß sich um sie herum steile Schrägen erhoben, ein Rund aus steinernen Stufen. Eine Arena war es, ein Amphitheater von gewaltigen Ausmaßen, und in seiner Mitte klaffte der Zugang zum Tunnel. Grimma und die Krieger kletterten die verschneiten Ränge empor, und oben angekommen entdeckten sie, daß sich die Arena im Herzen einer Stadt befand und die Stadt in einem Tal und das Tal in einem hohen, zerklüfteten Gebirge. Kein lebendes Wesen war weit und breit zu sehen. Die Stadt war ein Labyrinth aus Ruinen, aus Mauerresten, eingestürzten Torbögen und zerfallenen Dächern, und ringsum türmten sich gewaltige Felsbrocken, manche nicht größer als ein Pferd, andere aber so schwer wie ein Haus, und es sah aus, als seien sie geradewegs vom Himmel herabgefallen. Alles war von einer Schneedecke überzogen, die es schwierig machte, Einzelheiten zu erkennen. Doch je länger Grimma und die anderen über den Rand der Arena hinausschauten, desto größer wurde ihre Gewißheit, daß diese Stadt nicht immer im Freien gelegen hatte. Denn die Felsen waren augenscheinlich die Überreste einer mächtigen Höhlendecke, die das ganze Tal überspannt hatte, und die Berghänge rundherum waren die Wände einer riesigen Grotte. Die Häuser, Plätze und Straßen hatten einst im Inneren eines Berges gelegen, bis irgend etwas - oder irgendwer - die Felsdecke zum Einsturz gebracht hatte.