Ein Trümmerstück, so groß wie Thorhâls Thronsaal, hatte eine tiefe Kerbe in die äußere Wand gerissen, einen V-förmigen Einschnitt, der fast bis zum Boden herabreichte, mindestens zwanzig Schritte tief. Hier kletterten sie im Schutz von Geröll und Mauerresten nach unten und erreichten nach einer Weile ebene Erde. Der Vorplatz des Amphitheaters war zu einem Labyrinth aus Spalten geworden, die sich weit zwischen den herabgefallenen Felsbrocken verzweigten. Grimma ärgerte sich über sich selbst; sie hätte von oben einen Weg durch diesen Irrgarten auskundschaften müssen. Nun aber standen sie vor turmhohen Felsflanken und mußten sich allein auf ihr Gespür für die richtige Richtung verlassen.
Der Weg war mühsam und führte nur an wenigen Stellen über den gepflasterten Boden des Vorplatzes. Die meiste Zeit über kletterten sie grobkantige Schrägen hinauf und hinunter, und Eis und Schnee vervielfachten die Erschwernisse. Oft verlor einer von ihnen der Halt und riß einige der anderen mit sich. Als sie endlich die ersten Häuserruinen erreichten, war keiner unter ihnen, der nicht zahllose blaue Flecken, Schürfwunden und Prellungen davongetragen hatte.
Aus der Nähe erkannte Grimma, daß die meisten Gebäude von der herabgestürzten Höhlendecke zerschmettert worden waren. Vielfach standen noch einige der Außenmauern, aber im Inneren stießen die Zwerge auf Gesteinsbrocken, die nicht nur die Dächer, sondern auch die Zwischenböden durchschlagen hatten. Grimma hielt Ausschau nach Leichen, doch im Grunde war ihr klar, daß sie keine finden würde. Die Katastrophe, die das alte Zwergenreich vernichtet hatte, lag viele Jahrhunderte zurück, und das rauhe Wetter des Nordlandes mußte jede Spur seiner Bewohner verwischt haben. Selbst wenn es noch irgendwo Knochen oder Kleiderreste geben sollte, lagen sie unter meterhohem Stein und Schnee begraben.
Der Wind, der durch die schmalen Freiräume zwischen Mauern und Felstrümmern wehte, verursachte sonderbare Geräusche, so als sei die ganze Alptraumlandschaft von einem bedrohlichen Flüstern erfüllt. Die Zwerge wurden mit jedem Schritt vorsichtiger, und Grimma war darauf bedacht, zu jeder Zeit persönlich an der Spitze des Trupps zu gehen. Mehrmals fuhr einer oder auch alle von ihnen herum, wenn sie glaubten, Stimmen oder Schritte zu hören, doch jedesmal erwiesen sich die Laute als Hirngespinst oder als das geisterhafte Pfeifen der Winterwinde.
Unter all den Trümmerbergen und Eismassen war es schwierig, sich das ursprüngliche Bild der Zwergenstadt vorzustellen. Die Arena schien einst der Mittelpunkt der riesigen Anlage gewesen zu sein. Gassen führten von dort aus sternförmig in alle Richtungen und waren untereinander durch weitere Schneisen und Durchgänge verbunden. Aus der Luft mußten die Wege ein Muster bilden, das einem Spinnenetz sehr ähnlich war. Die Gebäude hatten ein bis zwei Stockwerke, zudem gab es Reste einiger Aussichtstürme, von denen nur noch ein einziger aufrecht stand. Wie durch ein Wunder hatte ihn der Gesteinregen unversehrt gelassen.
Die gleißende Nordlandsonne näherte sich bereits dem Rand der zerschrundeten Felswände, als Grimma den Männern die Erlaubnis gab zu rasten. Sie alle waren erschöpft, manche von Stürzen leicht verletzt, und obwohl sie nach Grimmas Einschätzung etwa ein Drittel der Stadt grob ausgekundschaftet hatten, fühlte sie sich schutzlos und unsicher. Als Anführerin durfte sie ihre Gefühle keinem ihrer Gefährten offenbaren, und so tat sie gelassen und versuchte zugleich, den anderen Mut zuzusprechen. Sie fand selbst, daß sie dabei reichlich unbeholfen vorging, und sie kam sich unehrlich vor. Dennoch hatte sie bald das Gefühl, daß sich die niedergeschlagene Stimmung der Krieger ein wenig hob.
»Werden wir die Nacht hier draußen verbringen?« fragte Gellir, während sie alle sich in einer überdachten Nische aneinanderdrückten. Sie wagten nicht, ein Feuer zu entzünden, an dem sie sich hätten wärmen können. So lange nicht geklärt war, ob sich Nordlinge in den Ruinen aufhielten, durften sie durch nichts Aufmerksamkeit erregen.
»Haben wir eine andere Wahl?« erwiderte Grimma auf Gellirs Frage. »Außerdem ist es in der Arena auch nicht wärmer.« Sie fühlte sich selbst nicht wohl bei dem Gedanken, in der untergegangenen Stadt zu übernachten. Andererseits gab es nirgends einen besseren Platz. Immerhin hatten sie hier ein Dach über dem Kopf, das sie vor neuen Schneefällen schützte.
»Wenn die Nordlinge wirklich in der Nähe sind, müßte es dann nicht Hütten geben?« fragte einer der Krieger. »Sie schlafen doch kaum ein Leben lang unter freiem Himmel.«
Grimma nickte. »Morgen früh werden wir als erstes versuchen, den Aussichtsturm zu besteigen. Vielleicht sieht man von dort oben mehr.«
Bollis zog sich sein Fell enger um die Schultern. »Ich bin dafür, daß wir es heute noch versuchen. Sicher entzünden die Nordlinge Feuer. Wir könnten vom Turm aus nach Rauch suchen, der zwischen den Ruinen aufsteigt.«
»Wir würden den Turm vor Sonnenuntergang nicht mehr erreichen«, entgegnete Grimma.
»Nicht alle zusammen«, sagte Bollis, »aber wenn zwei von uns, die Schnellsten, loslaufen, könnten sie noch rechtzeitig dort sein.«
Grimma wußte, worauf er hinauswollte. Bollis und sie selbst liefen schneller als jeder andere. Gewiß hatte er recht: Sie konnten es schaffen. Vorausgesetzt, sie zögerte den Entschluß nicht länger hinaus.
»Nun gut.« Sie stand auf. »Egil, du führst unterdessen den Befehl. Sollten Bollis und ich im Morgengrauen nicht wieder bei euch sein, bringst du die anderen zur Arena. Kehrt zurück zum Hohlen Berg und berichtet Thorhâl, was wir gefunden haben. Soll er die Entscheidung treffen, was zu tun ist.«
Wenig später waren sie und Bollis unterwegs. Mit weiten Sätzen liefen sie durch die Ruinen, in jene Richtung, in der oberhalb von Mauerresten und Felskanten der schlanke Aussichtsturm emporstach. Sein schwarzer Umriß stand da wie eine Säule, die den graublauen Himmel stützte. Die Sonne war zur Hälfte hinter den spitzen Graten der Berge versunken, ihre verbleibenden Strahlen weckten die Nachtschatten aus ihrem Schlaf. Dunkelheit stieg vom Boden auf wie schwarzer Dunst.
Sie brauchten länger, als sie vermutet hatten, bis sie endlich, völlig außer Atem, den Fuß des Turmes erreichten. Sein Eingang wurde nahezu gänzlich von einem Granitbrocken versperrt, und nur mit Mühe gelang es Grimma und Bollis, sich durch den engen Spalt ins Innere zu zwängen. Dort erwartete sie die nächste Enttäuschung: Der untere Teil der Wendeltreppe, die an den Wänden nach oben führte, war eingestürzt - ein Trümmerstück, das geradewegs von oben in den Turm gefallen war, hatte die Aussichtsplattform zerstört und bei seinem Fall in die Tiefe einen Teil der Stufen mit sich gerissen.
»Wir können es trotzdem schaffen«, munterte Grimma den enttäuschten Bollis auf und deutete auf die Fensternischen, die in regelmäßigen Abständen den Verlauf der Wendeltreppe unterbrachen. »Die obere Plattform mag zerstört sein, aber wenn es uns gelingt, irgendwie auf die Treppe zu kommen, können wir aus einem der oberen Fenster schauen.«
Bald hatten sie eine Möglichkeit gefunden, sich über eine Trümmerrampe zur untersten der heilgebliebenen Stufen hinaufzuhangeln. Jenseits des Lochs, das der Felsbrocken in den oberen Teil des Turmes gerissen hatte, färbte sich der Himmel dunkel. Sie mußten sich beeilen.
Vorsichtig kletterten sie die Treppe hinauf, immer in der Angst, das mürbe Gestein könnte unter ihnen zusammenbrechen. Sie gelangten zum ersten Fenster, dann zum zweiten und stiegen ohne Pause weiter nach oben. Das fünfte und letzte Fenster befand sich nur ein kleines Stück unterhalb der ehemaligen Turmplattform. Grimma beugte sich hinaus, so weit, daß Bollis sie von hinten festhalten mußte. Es gelang ihr, einen Großteil der Stadt zu überblicken. Als erstes schaute sie zurück zur Arena. Auf dem Rundgang der Außenmauer war niemand zu erkennen. Die Zurückgebliebenen mußten sich ins Innere zurückgezogen haben. Sie schaute weiter in die Runde, über die zerfallenen Ruinen hinweg. Sie versuchte den Ort auszumachen, an dem sie den Rest des Spähtrupps zurückgelassen hatten, gestand sich jedoch ein, daß sie angesichts des labyrinthischen Wirrwarrs aus Felsen, Gassen und Geröllhalden die Orientierung verloren hatte.