Da durchlief sie ein eiskalter Schauder. Bollis’ Vermutung war richtig gewesen. Rechts von ihr, weit vom Rand der Arena entfernt, stieg eine schwarze Rauchsäule zwischen den Trümmern empor.
Zwerge lebten gewiß keine mehr in dieser Gegend. Vielleicht weiter im Norden, aber bestimmt nicht in der Stadt. Ob dieses Land noch andere Bewohner hatte, wußte Grimma nicht, doch ihr Gefühl sagte ihr, daß nur Nordlinge das Feuer dort unten entzündet haben konnten. Sie konnte die Anwesenheit der feindlichen Krieger spüren wie einen schlechten Odem, der die klare Winterluft durchzog.
»Sieh selbst«, sagte sie atemlos und machte Platz, so daß auch Bollis hinausschauen konnte.
»Das sind sie«, hörte sie ihn über das Säuseln des Windes sagen. »Das müssen sie sein!«
»Was denkst du, wie weit sie entfernt sind?«
»Sieben, acht Speerwürfe, nicht weiter.«
Das entsprach ihrer eigenen Schätzung. »Wir müssen zurück zu den anderen.«
Bollis zog den Oberkörper zurück ins Innere des Turms. Eiskristalle glitzerten in seinem schwarzen Bart. »Das ist ungefähr die Richtung, aus der wir gekommen sind, nicht wahr?«
Grimma hob die Schultern. »Möglich, daß sie nicht allzu weit von unserem Lager entfernt sind.«
Bollis’ Augen verrieten sein Erschrecken, doch er sagte nichts. Eilig stürmten sie die Stufen hinunter, sprangen auf die Geröllrampe, zwängten sich durch den Eingangsspalt und liefen hinaus ins Freie. Sie hielten einen Moment an, um sich erneut zu orientieren, und beide suchten mit verkniffenen Augen den Himmel ab, um über den Rändern der Ruinen die Rauchfahne wiederzufinden.
»Dort!« rief Grimma aus und deutete über die Trümmerlandschaft.
Bollis folgte ihrem Blick und nickte düster. »Ja«, preßte er hervor, »das sind sie. Ich verwette meinen Sold für ein Jahr, daß das Nordlinge sind.«
»Hoffen wir, daß du an einem Stück zurückkehrst, um noch Freude an deinem Sold zu haben«, murmelte Grimma und rannte los.
Sie benutzten denselben Weg, auf dem sie hergekommen waren. Einen Augenblick lang hoffte Grimma, daß ihre Gefährten das Feuer entzündet hatten - aber nein, Egil würde niemals gegen ihren Befehl verstoßen.
Beide hielten ihre Äxte fest umklammert. Die Kälte der Griffe schien sogar durch ihre Handschuhe zu dringen, und Grimma fragte sich, ob es nicht vielleicht ihr Herz war, das allmählich zu Eis erstarrte. Seit sie den Rauch zum erstenmal entdeckt hatten, war der frostige Schauder nicht mehr aus ihren Gliedern gewichen. Eine Mischung aus angstvoller Vorahnung und der kühlen Gewißheit, daß ein Kampf nicht mehr abzuwenden war, hatte sich ihrer bemächtigt. Sie sah Bollis starren Zügen an, daß es ihm ähnlich erging.
Sie stolperten, sprangen und kletterten vorwärts, immer weiter, so schnell sie nur konnten. Anders als auf dem Hinweg schien sich die Strecke zu dehnen wie eine Bogensehne, sie erschien Grimma jetzt länger und beschwerlicher.
»Sollten wir nicht erst die Feuerstelle auskundschaften, bevor wir zu den anderen zurückkehren?« fragte Bollis.
Grimma schüttelte im Laufen den Kopf. »Wir müssen sie warnen, dann können wir weitersehen. Ich will nicht, daß uns die Nordlinge überwältigen, ohne daß Egil weiß, wo er uns suchen muß.«
Bollis zog eine Grimasse. »Wenn uns die Nordlinge überwältigen, wird es nicht mehr nötig sein, nach uns zu suchen.«
Sie gab keine Antwort. Er hatte recht, natürlich. Was für eine dumme Hoffnung, ihre Feinde könnten sie gefangennehmen und am Leben lassen. Weshalb kam sie auf solche Gedanken? Sie war eine Kriegerin, und sie wußte, wie man mit Ehre und Anstand starb. Früher wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, daß ein Gegner sie schlug, ohne sie zu töten; lieber wäre sie in ein offenes Schwert gelaufen, als mit solch einer Schande weiterzuleben. Was brachte sie heute dazu, anders darüber zu denken? Wer brachte sie dazu? Liebe Güte, dachte sie, du bist nicht mehr die alte Grimma! Warum nur hatte Styrmir so gelächelt? Und was gab es dabei für die anderen zu flüstern?
Sie verdrängte die Antwort, auch wenn es ihr von Tag zu Tag schwerer fiel. Styrmir der Bartlose! Ausgerechnet ein Berater des Königs! Einer, der kaum wußte, an welchem Ende man eine Axt hielt!
Aber es gab anderes, über das sie nachdenken mußte. Lebenswichtiges. Über Nordlinge, zum Beispiel. Und vielleicht darüber, warum es mit einemmal nach verbranntem Fleisch roch.
Bollis blieb stehen. »Riechst du das?« Sein Gesicht war so weiß geworden wie die Schneedecke zwischen den Ruinen.
Grimma brachte nur ein ruckartiges Nicken zustande. Die Worte steckten in ihrem Hals fest, einige Herzschläge lang bekam sie vor Entsetzen kaum Luft.
Sie liefen weiter, noch schneller als zuvor. Das Feuer war nicht mehr weit entfernt, sie konnten schon sehen, wie sein gelbroter Schein über Hauswände flackerte. Sie hörten Stimmen, Gelächter, die Laute eines Festes. Oder einer Siegesfeier.
Die Stimmen erklangen in einer Sprache, die ihnen fremd war.
Grimma und Bollis ahnten, was sie erwarten würde, als sie um die letzte Felskante traten. Und doch überstieg der Anblick bei weitem das Maß dessen, was sie verkraften konnten. Grimma prallte zurück, als wäre sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen, während Bollis wie angewurzelt stehenblieb.
Keiner ihrer sechs Gefährten war mehr am Leben. Die Feinde hatten ihre Leichen achtlos übereinander geworfen, mit brennbaren Ölen übergossen und angezündet. Die reglosen Körper brannten lichterloh. Die Flammen schlugen zu hoch, als daß Grimma Gesichter in ihnen hätte erkennen können; sie dankte den Göttern für diese Gnade. Irgendwo in diesem Inferno lagen Egil und Gellir, zwei ihrer ältesten und engsten Freunde. Die Axt schien in Grimmas Händen zu erglühen, als käme sie gerade erst aus dem Schmiedefeuer. Der messerscharfe Stahl wog leichter als je zuvor, eine unmißverständliche Aufforderung, ihn zu benutzen.
Das Dutzend Nordlinge, das rund um den Scheiterhaufen stand und seine Waffen im Schnee reinigte, hatte die beiden Neuankömmlinge noch nicht bemerkt. Die Krieger trugen Helme und Rüstzeug aus Stahl, darunter warme Fellkleidung. Einer, offenbar der Anführer, hatte ein mächtiges Geweih hinter seinen Schultern befestigt. Die verzweigten Enden standen ab wie ein Paar erstarrter Schwingen. Es ähnelte dem eines Hirsches, wirkte jedoch breiter, schwerer und weniger feingliedrig. Von welchem Tier es stammte, wußte Grimma nicht zu sagen; gewiß von keinem, das in den Ländern rund um den Hohlen Berg anzutreffen war. Das Schwert des Anführers steckte in einer ledernen Scheide, und in seinen Händen hielt er einen langen Stab, auf dessen Spitze der Knochenschädel eines Wolfes thronte; aus Augen und Maul baumelten getrocknete Tiersehnen, an deren Ende menschliche Fingerknochen befestigt waren. Bei jeder Bewegung des Nordlings schlugen sie gegeneinander wie ein Windglockenspiel.
Grimma zog Bollis zurück in den Schatten eines Felsbrockens. Dort starrte sie ihm fest in die Augen und sah das haßerfüllte Glühen darin.
»Wir töten sie!« stieß er leise hervor. »Wir töten sie alle!«
»Sei kein Narr«, gab sie zischend zurück. »Wir werden genauso enden wie die anderen.«
Einen Augenblick lang befürchtete Grimma, Bollis’ Haß könnte sich gegen sie richten. »Du willst Egil und Gellir nicht rächen?« fragte er lauernd.
»Bollis, verdammt!« Sie packte ihn hart an der Schulter. »Natürlich will ich das. Aber wir müssen die anderen am Tunnel warnen. Oder willst du auch sie noch verlieren?«
»Was scheren mich die anderen? Meine Freunde verbrennen dort drüben. Kannst du sie riechen? Riechst du, wie Egil und Gellir brennen?« Seine Stimme drohte sich zu überschlagen. Panik lauerte hinter der Fassade seines Zorns.