Grimma wünschte ihm im stillen viel Glück, dann lief sie die steinerne Treppe hinauf. Erst am oberen Fenster machte sie halt, zog zwei Feuersteine aus ihrem Bündel und schlug sie so lange gegeneinander, bis ihre Hände schmerzten und die ersten Funken auf den Stoff der Weste übersprangen. Sie schirmte die winzige Flamme gegen den Durchzug im Turm ab, trotzdem erlosch sie schon nach wenigen Augenblicken. Grimma blickte verzweifelt nach unten. Bollis war immer noch auf seinem Posten. Keine Anzeichen für einen Angriff. Sie versuchte es erneut, und diesmal brannte die Flamme heiß genug; der Luftzug konnte ihr nichts mehr anhaben. Bald schon loderte der Stoff der Weste lichterloh. Grimma beugte sich aus dem Fenster und schwenkte die brennende Axt wie eine Fackel hin und her. Die Zwerge in der Arena würden Wächter aufgestellt haben. In der Dunkelheit mußten sie das Feuer unterhalb der Turmspitze auf jeden Fall bemerken. Hoffentlich würden sie die richtigen Schlüsse ziehen.
»Wie sieht es unten aus?« rief sie über die Schulter ins Innere des Turms.
»Keine Spur von ihnen«, klang es gedämpft zurück.
Grimma fragte sich, ob irgendwo in der Nacht gerade eine Pfeilspitze auf sie gerichtet wurde. Mit der lodernden Axt in der Hand gab sie ein Ziel ab, das nicht einmal ein Kind verfehlen konnte. Der Gedanke beunruhigte sie zutiefst, und das Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit machte alles nur noch schlimmer. Trotzdem winkte sie weiter. Schon lösten sich die ersten brennenden Fetzen der Weste von der Axtschneide und verschwanden mit sanftem Schaukeln in der Tiefe. Grimma blickte ihnen gedankenverloren nach, bis sie am Boden erloschen.
Die Arena war in der Dunkelheit nur als formloser schwarzer Umriß auszumachen, der sich schwach vom dunkelgrauen Nachthimmel abhob. Regte sich auf ihrem Rand etwas, oder war das nur eine Täuschung? Grimma blickte angestrengt hinüber, bis ihre Augen tränten. Sie war jetzt ziemlich sicher, daß sich in der Finsternis etwas bewegte.
Plötzlich glomm über dem Rand der Arenamauer ein Funke auf, ein winziges Glühen, das rasch heller wurde.
Liebe Güte, durchfuhr es Grimma, was machten diese Hornochsen denn? Hatten sie ihr Zeichen etwa als Aufforderung verstanden, gleichfalls ein Feuer zu entzünden?
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Dort oben loderte eine Flamme. Spätestens jetzt mußte auch der letzte Nordling begreifen, daß sich in der Arena jemand aufhielt. Jemand, der dort nichts zu suchen hatte.
Und in diesem Augenblick, mit der Kraft und Plötzlichkeit eines Schwerthiebes aus dem Hinterhalt, begriff Grimma ihren Fehler. Zorn, Verzweiflung und Haß formten in ihrer Kehle einen stummen Schrei.
Das Feuer auf der Arenamauer loderte höher.
Es war kein Signal.
Grimma warf sich herum, schlug die Axt mit der Breitseite gegen die Wand, bis auch die letzten Flammen erloschen, und stürmte die Stufen hinunter, zur Tür und zu Bollis. Der Zwergenkrieger schaute ihr alarmiert entgegen.
»Was -« begann er, doch Grimma unterbrach ihn.
»Was waren wir für Narren!« Konnte er die Tränen der Wut in ihren Augen sehen? Sie blinzelte und drängte an ihm vorbei zum Ausgang. »Deshalb haben sie uns nicht verfolgt!«
»Ich verstehe nicht«, stammelte er bleich.
Grimma fuhr zu ihm herum. »Sie wußten, daß es nur einen Weg geben konnte, auf dem wir in die Stadt gelangt sein konnten. Die Arena, verdammt! Sie haben es im selben Moment begriffen, da sie auf Egil und die anderen stießen. Statt uns, die wir nur zu zweit sind, zu jagen, sind sie geradewegs zur Arena marschiert - wer weiß, wie viele von ihnen.«
»Willst du damit sagen -«
»Jemand hat ein Feuer oben auf der Mauer entzündet. Ich glaube nicht, daß unsere Leute das waren.«
Bollis schrie auf, voller Zorn und Qual, und hieb seine Axt so heftig in den Boden, daß nur noch das Heft hervorschaute. »Das darf nicht sein!« brüllte er. »Nicht auch noch sie!«
»Komm!« sagte Grimma und rang vergeblich um ihre Fassung. »Machen wir uns auf den Weg.«
Sie waren kaum ins Freie getreten, als Bollis einen warnenden Ruf ausstieß. Beide nahmen ihre Kampfstellung ein, als vor ihnen die Finsternis in Bewegung geriet.
»Bevor sie mich verbrennen wie die anderen, will ich mindestens drei von ihnen zur Hölle schicken!« zischte Bollis mit finsterer Entschlossenheit.
»Und drei für mich«, gab Grimma zurück.
Aber es war kein Nordling, der vor ihnen aus dem Dunkel trat. Es war Styrmir.
Grimma ließ ihre Waffe sinken. »Du?« entfuhr es ihr.
Styrmir nickte und kam eilig näher. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest mich einfach zurücklassen?«
Bollis’ Miene änderte sich nicht. Er starrte den Berater an, als sei er der Anführer der Nordlinge persönlich. »Ist es immer deine Art, gegen Befehle zu verstoßen?«
»Ich bin kein Krieger«, gab Styrmir zurück, »und unterstehe keinem Befehl außer dem des Königs. Außerdem hätte ich in der Arena ohnehin niemandem nutzen können. Und um Nutzen geht es doch, Grimma, das hast du mir doch unmißverständlich klargemacht, nicht wahr?« Ein Lächeln stahl sich auf seine Züge.
Grimma wollte etwas erwidern, doch Bollis kam ihr zuvor: »Der Feigling ist vor ihnen davongelaufen. War es nicht so, Königsberater? Du hast sie kommen sehen und hast dich aus dem Staub gemacht, so schnell dich deine Beine trugen.«
Styrmirs Blick verriet ehrliche Verwirrung. »Wen meinst du mit ›sie‹?«
»Nordlinge«, sagte Grimma hart. Und an Bollis gewandt fuhr sie fort: »So schnell hätte er nicht hier sein können. Er muß die Arena lange vor dem Angriff verlassen haben.«
»Von was für einem Angriff sprecht ihr?« Styrmir wurde immer ungeduldiger; er war merklich blaß geworden. Der Mond brach durch die Wolken, und seine Strahlen entzogen dem Gesicht des Beraters auch den letzten Rest von Farbe.
»Wenn es wahr ist, was wir befürchten, ist in der Arena kein Zwerg mehr am Leben«, erwiderte Grimma und wünschte sich, ihre Stimme würde nicht so schwanken.
»Aber als ich fortging, waren noch alle -«
»Lebendig, ja«, sagte Bollis kalt. »Und jetzt sind sie tot. Wie Egil und Gellir und all die anderen.«
»Wollt ihr damit sagen, ihr seid die letzten?« fragte Styrmir leise. Er klang betroffen, aber nicht halb so ängstlich, wie Grimma erwartet hatte.
»Wir drei sind die einzigen Überlebenden«, bestätigte sie. »Zumindest nehmen wir das an. Wir müssen zurück zur Arena, um Gewißheit zu haben. Hast du irgend etwas, um dich zu verteidigen?«
Styrmir deutete auf eine Axt in seinem Gürtel. Bei den Göttern, dachte Grimma, er streift mitten in der Nacht durch die Ruinen und hält seine Waffe nicht einmal kampfbereit in der Hand! Sie schüttelte stumm den Kopf und sagte: »Du solltest dich daran gewöhnen, sie zu benutzen, Styrmir. In dieser Nacht wird sich deine Axt mit mehr als nur einem Nordlingschwert kreuzen.«
»Wenn ihn das erste nicht gleich einen Kopf kürzer macht«, bemerkte Bollis verächtlich.
»Nicht Styrmir ist dein Feind, Bollis!« fuhr Grimma ihren Kampfgefährten an. »Ihr werdet Seite an Seite kämpfen, wenn es sein muß, und jeder von euch wird für den anderen sterben, falls es nötig ist. Habt ihr beiden das verstanden?«
Bollis nickte zackig, befehlsgewohnt, wie er es während seiner Ausbildung zum Krieger gelernt hatte. Styrmir trat auf ihn zu und reichte ihm zur Versöhnung die Hand. Bollis ergriff sie, doch Grimma bezweifelte, daß es ihm ernst war mit dieser Geste. Bollis hatte einen unverbesserlichen Dickschädel, und daran würde sich nichts ändern, bis ihn eines Tages eine Klinge von seinen Schultern schlug.
»Gehen wir«, wies Grimma die beiden an, und sogleich liefen sie los, durch nachtdunkle Gassen, aus denen schon vor Jahrhunderten alles Leben gewichen war.
Das frühere Zwergenreich war zu einem Ort des Todes geworden, und daran vermochte auch die Anwesenheit der Nordlinge nichts zu ändern. Die Spuren der Zerstörung von damals waren wie ein Echo der Verzweiflung, die die einstigen Bewohner beim Hereinbrechen der Katastrophe verspürt haben mußten. Grimma fragte sich, ob im Hohlen Berg eine ähnliche Atmosphäre herrschen würde, wenn Thorhâl erst sein Volk von dort fortgeführt hatte. Der Gedanke schmerzte sie. Sie liebte den Berg, seine kühlen Stollen und Hallen, er war ihre Heimat. Sie war dort geboren, hatte dort ihr ganzes Leben verbracht. Ihn zurückzulassen, leer und tot, kam ihr vor wie ein Verrat am Erbe ihrer Ahnen, aber auch am Hohlen Berg selbst. Stein war etwas Lebendiges, niemand wußte das besser als das Volk der Zwerge, und ihn achtlos dem Verfall kommender Jahrhunderte anheimzugeben schien Grimma grausam und falsch. Immer mehr verfestigte sich in ihr die Überzeugung, daß sie den König um jeden Preis von seinem Plan abbringen mußte, nicht allein, weil hier im Nordland Krieg und Verderben auf das Zwergenvolk warteten.