Sie näherten sich der Arena von einer Seite, die der Spähtrupp bislang noch nicht erforscht hatte. Es war gefährlich, sich in ihrer verzweifelten Lage auf unbekanntes Gebiet zu wagen, doch dies schien der schnellste Weg zu sein. Sie konnten die Flammen auf der Ummauerung der Arena jetzt deutlich erkennen, ein Leuchtfeuer, das ihnen den Weg wies, ein Symbol ihres Scheiterns. Grimma fragte sich, ob der Anführer der Nordlinge es für nötig gehalten hatte, Wachen rund um das Amphitheater zu postieren. Oder würde er warten, bis die drei Zwerge von sich aus die Arena betraten und sich damit selbst in die Falle manövrierten?
Sie hatten längst keine andere Wahl mehr. Sie mußten zurück zum Hohlen Berg, koste es, was es wolle, und der einzige bekannte Zugang zur alten Zwergenstraße lag am Grunde der Arena. Selbst wenn der Nordlingführer hundert seiner Männer dorthin beordert hatte, würden sie sich durch ihre Reihen hindurchkämpfen müssen.
Sie erreichten den Fuß der hohen Arenamauer ohne Hindernisse. Den Weg durch die Trümmer wertete Grimma kaum mehr als ernstzunehmende Schwierigkeit. In der Erwartung dessen, was ihnen bevorstand, verblaßte alles andere, so wie auch die Welt um sie herum an Dichte und Bedrohlichkeit zu verlieren schien. Sie kam sich vor wie in einem Tunnel, an dessen Ende ein einziges Ziel auf sie wartete: der Kampf mit den Nordlingen. Alles, was auf dem Weg dorthin lag, war ohne Bedeutung.
Eine Stimme meldete sich in Grimmas Inneren: Und Styrmir? fragte sie. Was ist mit ihm? Er ist kein Kämpfer, und mit der Axt ist er ebenso wehrlos wie ohne sie. Du wirst auf ihn achtgeben müssen.
Die Außenwand der Arena wurde in weiten Abständen von Torbögen durchbrochen. Die meisten lagen verborgen hinter Trümmerbergen, andere wurden von innen durch herabgestürzte Teile der Ränge versperrt. Trotzdem gelang es den dreien, ein Tor ausfindig zu machen, das zumindest von außen den Eindruck erweckte, Zugang zu den Räumen und Gängen unterhalb der Tribünen zu gestatten. Von dort aus mochte es ihnen gelingen, ins Herz der Arena vorzudringen, ohne dabei auf eine Armee von Nordlingen zu stoßen. Aber natürlich gab Grimma sich keiner falschen Illusion hin: Sie würden ihren Gegnern noch früh genug begegnen.
Nachdem sie durch den Torbogen getreten waren, versank die Umgebung endgültig in einem Meer aus Schwärze. Grimma hatte immer noch ihre Feuersteine dabei, und sie fürchtete, es würde ihr bald nichts anderes übrigbleiben, als sie zu benutzen. Blind würden sie nirgendwohin gelangen, und die Annahme, daß in der Dunkelheit zumindest keine Nordlinge auf sie lauern würden, war ein schwacher Trost. Sie mußten sich beeilen. Der Nordlingführer würde ungeduldig werden. Das Risiko, daß er noch weitere Krieger herbeibeorderte, war zu groß.
Eine vage Hoffnung glomm in Grimmas düsteren Gedanken auf: Was, wenn es gar keine weiteren Nordlinge gab, sondern nur das Dutzend, das sie gesehen hatten? Würde sich ein solcher Trupp nicht weit verteilen müssen, um eine Anlage wie diese abzusichern? Mit einzelnen Nordlingen konnten sie zu dritt fertig werden, vielleicht auch mit einer Zweiergruppe. Grimma schöpfte aus dieser Vorstellung neuen Mut. Trotzdem wagte sie nicht, ihre Hoffnung den anderen gegenüber zu erwähnen, aus der absurden Furcht heraus, Bollis und Styrmir könnten sie widerlegen. Grimma wollte daran glauben, wollte sich zumindest diese winzige Aussicht auf Erfolg gönnen.
Im harschen Gegensatz dazu stand die undurchdringliche Finsternis, die sie wie Vorhänge umgab und schwer auf ihre Gemüter drückte. Die Vorstellung, daß irgendwo über ihnen die Leichen ihrer Gefährten verbrannten, bereitete Grimma Übelkeit, und sie spürte, vielleicht zum erstenmal seit ihren frühen Jahren als Kriegerin, daß ihre Knie weniger standfest waren als sonst. Sie hatte Angst, und sie war ehrlich genug, sie sich einzugestehen.
»Wir brauchen Licht«, flüsterte Bollis, nachdem sie etwa dreißig Schritte durch die Finsternis gegangen waren, immer geradeaus und ohne auf Mauern oder - den Göttern sei Dank! - auf Gruben im Boden zu stoßen. Auch hier war alles vereist, doch zumindest lag, von den Verwehungen am Eingang abgesehen, kein Schnee, was das Gehen weniger anstrengend machte. Die Schwärze machte ihnen trotz des angeborenen Zwergentalents, im Dunkeln sehen zu können, ungemein zu schaffen; die Lichtlosigkeit eines Bergwerkstollens oder einer Höhle hätte ihnen keine Schwierigkeiten bereitet, doch dies war ein gemauertes Gebäude, und aus Gründen, die nur die Götter kannten, war die Finsternis in einem künstlichen Bauwerk eine andere als jene in natürlichem Fels - zumindest für die empfindlichen Auge der Zwerge. Grimma wunderte sich, daß ihre Vorfahren überhaupt auf so menschliche Gewohnheiten wie das Aufeinandermauern gehauener Steine zurückgegriffen hatten, wo sie doch ebensogut Hohlräume ins Gebirge hätten schlagen können, so wie sie es später im Hohlen Berg getan hatten.
»Ich glaube, da vorne wird es heller«, sagte Styrmir.
Ein Augenblick verging, dann entgegnete Bollis: »Unsinn! Da ist nichts.«
»Doch«, sagte Styrmir beharrlich. »Bleib stehen und schau geradeaus. Deine Augen müssen sich erst daran gewöhnen.«
Grimma wußte nicht, ob Bollis Styrmirs Anweisungen folgte; sie selbst jedenfalls tat es. Und, tatsächlich, da war etwas. Ein leichter Schimmer nur, eine Öffnung, durch die eine mondbeschienene Steinfläche zu erkennen war. Entweder waren dort einige der Ränge eingestürzt, oder aber sie hatten den Ausgang zum Innenhof der Arena erreicht.
»Jetzt kann ich es sehen«, sagte auch Bollis.
»Ruhe!« wies Grimma die beiden im Flüsterton an. »Falls das dort vorn wirklich ein Ausgang ist, werden Nordlinge in der Nähe sein.«
Sie wagten nicht, das letzte Stück durch die Finsternis schneller zu bestreiten als die bisherige Strecke, obgleich die fahle Helligkeit sie lockte. Noch aber konnten sie nicht einmal sehen, wohin sie ihre Füße setzten. Ausgerechnet jetzt durch eine eingebrochene Kellerdecke zu stürzen hätte das sichere Ende ihrer Mission bedeutet.
Sie erreichten die Öffnung voller Ungeduld, aber auch in der unheilvollen Erwartung eines Angriffs aus dem Hinterhalt. Der gemauerte Torbogen war kleiner als jener auf der Stadtseite, und er führte zu ihrer Enttäuschung nicht ins Herz der Arena, sondern auf einen breiten Weg, der sich im unteren Drittel der Zuschauerränge rund um die ganze Anlage schlängelte. Der Boden der Arena lag mindestens zwanzig Schritte tiefer. Grimma versuchte, einen Blick nach oben zur Ummauerung zu werfen, doch der Winkel war ungünstig, und sie konnte nicht einmal erkennen, ob das Feuer noch brannte. Wohl hing der Geruch von Rauch in der Luft, und von oben erklangen ferne Stimmen und das metallische Scharren der Rüstungen.
Vorsichtig schauten sie sich um, die Waffen kampfbereit. In unmittelbarer Nähe schienen sich keine Nordlinge aufzuhalten. Der Zugang zum Tunnel, ein kreisrunder Krater in der Mitte des Arenabodens, war nur als schwarze Fläche zu erkennen. Ob sich dort unten Wächter befanden, war nicht zu sehen, doch Grimma hatte keine Zweifel daran.
»Sieht aus«, raunte sie den anderen zu, »als müßten wir das letzte Stück des Weges im Freien zurücklegen.«