»Alles ist besser als diese Dunkelheit«, meinte Bollis mürrisch. Wie Grimma und Styrmir hatte auch er nie zuvor einen solchen Mangel an Licht erlebt - schließlich waren sie alle im Hohlen Berg aufgewachsen, in dem es keine absolute Dunkelheit gab -, und er war bereit, es lieber mit den Nordlingen aufzunehmen, als sich noch einmal zurück ins Innere der Anlage zu wagen.
Vorsichtig pirschten sie im Schatten gewaltiger Deckentrümmer von Rang zu Rang, langsam und nahezu geräuschlos, bis sie die untere Sitzreihe erreichten. Von hier aus fiel eine Mauer fünf Schritte tief ins Innere der Arena ab; früher hatte es hier ein Geländer gegeben, doch davon kündeten heute nur noch leere Verankerungen im Gestein. Wahrscheinlich hatten die Nordlinge das Metall eingeschmolzen, um daraus Schwerter zu schmieden.
»Wie sollen wir da runterkommen?« fragte Bollis.
»Springen«, entgegnete Styrmir knapp. »Oder siehst du eine andere Möglichkeit?«
Grimma runzelte die Stirn. »Wir werden uns alle Knochen brechen.«
Styrmir rümpfte höhnisch die Nase, warf seine Axt über die Brüstung, und ehe einer der anderen ihn aufhalten konnte, schwang er sich todesmutig in die Tiefe. Mit einem Stöhnen und einem dumpfen Laut kam er am Boden auf. Grimma schaute besorgt hinterher, sah aber, daß er sich bereits wieder aufrappelte.
»Er ist verrückt«, zischte Bollis.
»Ja«, sagte Grimma, und ihre Stimme war voller Anerkennung. »Genauso verrückt, wie man wohl sein muß, wenn man lebend hier herauskommen will.«
Und damit ließ sie ihre Waffe in die Tiefe fallen, setzte sich auf die Kante und stieß sich mit beiden Händen ab. Vom Fall selbst spürte sie nichts, konnte sich im nachhinein nicht einmal wirklich daran erinnern. Alles, was sie fühlte, war der Schmerz in ihren Beinen und, als sie sich abrollte, ein Knirschen in ihrem Rücken. Styrmir war sofort bei ihr und begann, sie abzutasten. Sie aber schob seine Hände eilig von sich und knurrte, alles sei in Ordnung. Sie kam schwankend auf die Knie, und diesmal war sie froh, daß Styrmir sie packte, denn sonst wären ihre Beine wohl unter ihr eingeknickt. Ihr war schwindelig, doch einen Moment später stand sie leidlich sicher auf beiden Füßen und hob ihre Axt vom Boden.
Bollis zögerte noch immer, und obwohl er einer der tapfersten Kämpfer war, die Grimma je getroffen hatte, tat er sich mit dem Sprung sichtlich schwer. Schließlich aber schloß er die Augen, verlor erst im Fall die Axt und kam unglücklich mit dem rechten Knie auf. Er keuchte vor Schmerz und humpelte leicht, als er sich wortlos aufmachte, seine Waffe zu suchen.
»Geht’s?« fragte Styrmir sorgenvoll, doch Bollis murmelte nur etwas Unverständliches, fand seine Axt und gesellte sich ohne einen weiteren Ton zu Grimma.
Von hier aus waren es noch rund dreißig Mannslängen bis zum Rand des Lochs. Der Mond tauchte die freie Fläche in dumpfes Grau. Würden die drei sie jetzt überqueren, waren sie von jedem Punkt der Arena aus deutlich zu sehen. Sie mußten warten, bis der Mond hinter einer Wolke verschwand. Vorausgesetzt, soviel Zeit blieb ihnen noch und ihr Sprung in die Tiefe war nicht bemerkt worden.
Grimma wagte sich einige Schritte weit aus dem Schatten der Mauer und blickte nach oben. Sie konnte das Feuer auf dem Rundweg jetzt deutlich erkennen, sah auch, daß sich mehrere Silhouetten davon abhoben.
»Komm zurück!« wisperte Styrmir ihr aus dem Schatten zu. »Sie können dich sehen.«
Grimma löste sich vom Anblick der Flammen und trat zu ihren beiden Gefährten ins Dunkel. Bollis starrte ungeduldig zum Mond empor. »Gleich ist es soweit«, raunte er ihnen zu.
Er behielt recht. Wenig später verschwand die Mondsichel hinter einer dunklen Wolkenmasse, und der Schein, der die Arena mit fahlem Dämmerlicht erfüllt hatte, erlosch.
Hastig liefen sie los. Grimma sah mit einigem Unbehagen, daß Bollis ein Bein nachzog. Kein Wort der Beschwerde oder des Jammers kam über seine verkniffenen Lippen. In diesem Augenblick galt ihm Grimmas uneingeschränkte Bewunderung, aber auch ihre Besorgnis. Sie sandte ein Stoßgebet zu den Göttern, daß sie ihn nicht im Stich lassen würden.
Styrmir dagegen lief flink, ohne sich aber allzu weit von dem verletzten Gefährten zu entfernen. Er würde sofort zur Stelle sein, falls Bollis stolpern oder gar zusammenbrechen sollte. Zumindest von seiner Seite aus schien ihr Streit beigelegt zu sein. Grimma beobachtete ihn verstohlen und dachte, daß es schade wäre, wenn sie gerade jetzt sterben müßten; schade, weil es das eine oder andere gab, das sie Styrmir gerne noch gesagt hätte. Daß sie seine Tätowierung am Kinn albern fand, zum Beispiel, aber auch ein, zwei freundlichere Dinge. Doch sie war nie besonders gut in diesen Dingen gewesen, und vielleicht war es ja gegen den Willen der Götter, daß sie eine weitere Möglichkeit bekam, sich darin zu üben.
Die runde Öffnung im Boden der Arena, über zehn Schritte im Durchmesser, war in der Dunkelheit kaum mehr als solche zu erkennen. Ebensogut hätte es sich um eine schwarze Rauchwolke oder eine Wasserfläche handeln können. Falls dort wirklich Feinde auf sie warteten, liefen Grimma und die beiden anderen ihnen blind vor die Klingen. Ihr einziger Vorteil war, daß die Nordlinge in der Finsternis noch weniger sehen konnten als sie selbst; soviel immerhin hatten sie während des Krieges im Hohlen Berg herausgefunden.
Sie erreichten den Rand der Öffnung schneller, als sie erwartet hatten. Im gleichen Moment ertönte von den Rängen der Arena ein schriller Alarmruf. Als Grimma aufblickte, erkannte sie eine Gruppe von drei Nordlingen, die dort standen, wo sie, Styrmir und Bollis eben herabgesprungen waren. Die drei Männer hatten ihre Spuren im Schnee entdeckt.
Der Zugang zur Zwergenstraße war augenscheinlich verlassen. Eine steile Rampe führte in die Tiefe. Die Zwerge wollten sie gerade hinablaufen, als von unten das Scharren zahlreicher Füße an ihre Ohren drang.
»Sie haben auf uns gewartet!« preßte Bollis hervor. »Nicht hier draußen, sondern im Tunnel!«
»Dann soll es eben so sein«, gab Grimma verbissen zurück. »Wir können nichts mehr daran ändern.«
Und schon war der erste Feind heran. In der Finsternis war er nicht mehr als ein schwarzer Umriß, breit, kräftig und mit einem schweren Streitkolben bewaffnet. Die Waffe sauste auf Styrmir zu, der sich plump nach hinten fallen ließ, so daß der Kolben über ihn hinwegzischte. Zugleich stieß er die Axt vor, ohne großes Geschick, aber doch kraftvoll genug, um den anderen im Magen zu treffen. Es war gewiß kein tödlicher Treffer, aber er warf seinen Gegner zurück, so daß er stolperte, aufstöhnte und die Rampe hinabpolterte.
Grimma starrte ihm fassungslos hinterher. Der Angreifer war kein Nordling gewesen. Sie hatte nur seine Silhouette sehen können, die Form seines Körpers, doch das reichte aus, um zu erkennen, daß er zu klein war. Zu klein für einen Nordling, zu klein auch für einen gewöhnlichen Menschen. Ein Kind aber hätte niemals den Streitkolben mit solcher Kraft handhaben können.
»Zwerge!« entfuhr es Bollis, der die gleiche Beobachtung gemacht hatte. »Es sind Zwerge wie wir!«
»Warum kämpfen sie auf der Seite der Nordlinge?« Styrmir sprang auf und packte seine Axt mit beiden Händen. Keiner wußte eine Antwort auf seine Frage.
Der stürzende Angreifer hatte die Attacke ihrer Gegner für kurze Zeit aufgehalten, als er einige von ihnen mit sich nach unten riß. Erst jetzt stürmten die nächsten die Rampe herauf, stürzten sich wortlos auf Grimma und Bollis. Es waren zwei, und sie wußten mit ihren Waffen umzugehen, dennoch hatten sie den Kriegern vom Hohlen Berg nichts entgegenzusetzen. Grimmas Axt spaltete dem einen Helm und Schädel - ein gehörnter Helm, wie ihn die Nordlinge trugen -, während Bollis dem anderen seine Waffe tief in den Brustkorb hieb.
Von unten ertönten weitere Schritte, noch mehr Zwerge kamen herauf, während auf den Rängen ein halbes Dutzend Nordlinge zusammenströmte und sich auf den Weg zum Boden der Arena machte.