Grimma blieb keine Zeit, sich Gedanken zu machen, weshalb sie plötzlich gegen ihresgleichen kämpften. Unbändige Wut überkam sie, Haß auf die Mörder ihrer Gefährten. Ob Zwerge oder Nordlinge oder gar die Götter selbst - in diesem Augenblick hätte sie es mit jedem aufgenommen. Zwerge verfielen nicht in Berserkerwahn wie die Nordlandkrieger, und doch kam das, was Grimma jetzt fühlte, der Kampfwut der Nordlinge gefährlich nahe. Sie hieb und schlug und hackte, die Schneiden ihrer Axt spalteten Leiber, durchtrennten Glieder und richteten ein Gemetzel unter ihren Feinden an. Durch einen Schleier aus Blut und Zorn überkam sie die Gewißheit, daß sie verloren waren, falls die Nordlinge von den Rängen sie erreichten. Ihnen blieb nur die Möglichkeit, sich einen Weg durch die Reihen der Zwergenwächter hinab in die Tiefe zu kämpfen.
Grimma sah, daß Bollis einen Gegner nach dem anderen fällte, und sogar Styrmir schlug sich tapfer. Er blutete aus einer Schnittwunde an der Stirn und aus einer anderen an der linken Schulter, doch seine Durchhaltekraft war bemerkenswert. Während Grimma einem Feind den Schädel von den Schultern hieb, durchfuhr es sie, daß Styrmir ihr vielleicht trotz allem ein würdiger Gefährte wäre. In mehr als nur in der Schlacht. Der Gedanke schien ihr in dieser Lage so absurd, daß sie fast laut aufgelacht hätte. Sie wußte, es war der Kampfrausch, der ihr Blut derart zum Kochen brachte, und sie hatte das Gefühl, als wüchse ihre Kraft mit jedem Gegner, dem sie den Garaus machte. Sie verspürte keinen Triumph, keinen Hohn oder Spott für die Gefallenen, nur den Willen durchzuhalten, ganz gleich, was sie am Ende dieses Weges erwarten mochte; der Tod, vielleicht, oder das blanke Überleben. Einen echten Sieg, das wußte sie, konnte es für sie nicht mehr geben. Sie würde immer die Unterlegene bleiben, wenn nicht in dieser Schlacht, dann spätestens, wenn sie Thorhâl vor den Gefahren des Nordlandes warnte. Er würde nicht auf sie hören. Diese ganze Mission war sinnlos, und tatsächlich hatte sie das bereits damals geahnt, im selben Moment, da der König ihr seine Pläne mitgeteilt hatte. Sinnlos wie der Tod all ihrer Freunde.
Sie schaute zurück über ihre Schulter, sah, daß die Nordlinge vom unteren Zuschauerrang hinab in die Arena sprangen. Ihnen bereitete die Höhe keine Schwierigkeiten. Sie kamen sicher mit beiden Füßen am Boden auf, stolperten nicht, liefen aus dem Stand los und schwangen mit wütendem Gebrüll ihre Schwerter.
»Wir müssen hier weg!« stieß Bollis atemlos aus und wich mühsam dem Streitkolben eines Zwerges aus.
Grimma blockierte die Attacke ihres Gegners, schlug mit der Axt nach seiner Seite, verfehlte ihn, nutzte seine Drehung aber, ihm einen kraftvollen Tritt in den Unterleib zu geben. Der Zwerg ächzte und fiel nach hinten, rollte strampelnd die Schräge hinunter.
Diesmal wartete Grimma nicht, bis ihr die nächsten Gegner von unten entgegentraten. Sie sprang mit einem wilden Kriegsschrei die Rampe hinab, rammte einen überraschten Feind mit der Schulter beiseite, zog einem anderen im Vorbeilaufen die Axtschneide über den Oberarm und stolperte mit wirbelnder Waffe weiter. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Bollis und Styrmir es ihr gleich taten. Bollis blieb während des gesamten Kampfes einige Schritte vor dem Königsberater und hielt einen Großteil der Angreifer von ihm fern; wie ein Schiffsbug pflügte er durch die Feinde, während Styrmir in seinem Fahrwasser hinterherlief.
Auf der Rampe hielten sich weniger Zwerge auf, als sie befürchtet hatten. Bollis mähte zwei mit grausamen Axthieben nieder, einen anderen brachte Styrmir mit einem Faustschlag zu Fall. Grimma hinterließ eine Spur aus drei Verletzten, verzichtete aber darauf, sie zu töten. Sie verachtete die gegnerischen Zwerge, mehr noch als die Nordlinge, denn es waren Verräter, die sich gegen ihr eigenes Volk stellten. Grimma hätte es gewiß genossen, jedem einzelnen von ihnen den Garaus zu machen, doch dazu blieb jetzt keine Zeit. Sie mußten weiter, tiefer in den Tunnel, um ihren Vorsprung vor den Nordlandkriegern zu vergrößern.
Am Fuß der Rampe lagen mehrere Tote und Verletzte, die von oben den Hang herabgerollt waren. Grimma und die anderen beachteten sie nicht. Keiner von ihnen hätte es nach dem eintönigen Marsch der vergangenen fünf Monde für möglich gehalten, jemals Freude beim Anblick des endlosen Tunnels zu empfinden; und doch hätte Grimma in diesem Augenblick jubeln können vor Erleichterung. Das erste und gewiß gefährlichste Hindernis auf dem Weg in die Heimat war bewältigt - falls es ihnen gelang, der Horde von Nordlingen zu entkommen, die sich in diesem Augenblick anschickte, die Rampe herabzustürmen.
»Schneller!« rief Grimma ihren beiden Gefährten zu. »Bei den Göttern, ihr müßt noch schneller laufen!«
»Wir sollten uns ihnen stellen!« keuchte Bollis. Styrmir stützte ihn, und zu Grimmas Erstaunen ließ der Krieger sich die Hilfe widerspruchslos gefallen. Sie selbst packte Bollis am anderen Arm, und so rannten sie zu dritt, fest ineinander verhakt, den Tunnel entlang nach Süden. Fünf Monde lagen vor ihnen, wenn die Nordlinge sie nicht vorher stellten, fünf Monde, in denen sie sich von Fledermäusen, Echsen und den Fischen der unterirdischen Flüsse ernähren würden. Aber daran mochte jetzt noch keiner von ihnen denken.
Es wurde dunkler, das Sternenlicht vom Eingang blieb hinter ihnen zurück, und sie mußten sich jetzt ganz auf die Schärfe ihrer Zwergenaugen verlassen. Zumindest darin waren sie den Nordlingen hier unten überlegen. Ihre Gegner würden erst Fackeln herbeischaffen müssen, um die Verfolgung fortzusetzen. Und tatsächlich verstummte das Geschrei der Nordlandkrieger allmählich hinter ihnen, als die Männer angesichts der Finsternis am Fuß der Rampe zurückblieben.
Die drei Zwerge liefen lange Zeit ohne Unterbrechung weiter, bis schließlich immer offensichtlicher wurde, daß Bollis die Schmerzen in seinem Bein zwar so gut es ging überspielte, ihnen aber letzen Endes unterliegen würde. Keiner von ihnen vermochte zu sagen, wie groß die Entfernung war, die sie zwischen sich und die Rampe gebracht hatten, und auch die Zeit selbst hatte längst an Bedeutung verloren. Sie ließen sich am Rande des Tunnels nieder, gleich am Fuß der Höhlenwände, und Grimma massierte Bollis’ Bein mit geschickten, wenn auch erschöpften Händen. Er verzog das Gesicht, sagte aber kein Wort. Styrmir warf Grimma einen besorgten Blick zu.
»Ich halte euch auf«, stöhnte Bollis nach einer Weile. »Das beste ist, wenn ihr mich liegenlaßt.«
Grimma lächelte bitter. »Das also hättest du hinter dich gebracht. Vielleicht können wir jetzt ernsthaft bereden, wie es weitergehen soll.«
Bollis wollte widersprechen, doch Grimma fiel ihm scharf ins Wort: »Ich habe heute fünfzehn Männer verloren. Fünfzehn hervorragende Krieger, darunter einige meiner besten Freunde! Sie haben mir vertraut, und ich habe sie geradewegs in den Untergang geführt. Glaub mir, Bollis, selbst wenn ich dich den ganzen Weg zurück zum Hohlen Berg auf meinen Schultern tragen müßte, würde ich dich gewiß nicht hier unten verrotten lassen. Ist das ein für allemal klar?«
Bollis blickte an ihr vorbei ins Dunkel, nickte steif. Er verzichtete auf eine Antwort, aber Grimma sah ihm an, daß er angestrengt nachdachte. Gut, dachte sie erleichtert, vielleicht würde er so zur Vernunft kommen.
Vernunft? spottete die Stimme in ihrem Inneren. Vernünftig wäre es, Bollis zurückzulassen. Du hast es immer gewußt, nicht wahr? Wenn es ein einziger zurück zum König schafft, war die Mission ein Erfolg. Ein einziger genügt. Noch hast du nicht verloren, noch nicht.
Sie haßte sich selbst für solche Gedanken.
»Lange sind wir hier nicht sicher«, sagte Styrmir.
»Ach, nein?« gab Grimma streitlustig zurück. »Gut, daß wir einen so scharfen Beobachter unter uns haben.«
Zu ihrer Überraschung war es Bollis, der sagte: »Laß deine Wut nicht an Styrmir aus, Grimma. Er hat sich tapfer geschlagen.«
Einen Moment lang hielt sie dem stechenden Blick ihres verletzten Freundes stand, dann nickte sie in Styrmirs Richtung. »Es tut mir leid. Du hast recht, sie werden uns folgen. Aber wir werden ihre Fackeln sehen, wenn sie näherkommen, das ist unser Vorteil.«