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Doch immer, wenn Grimma glaubte, ihn endlich durchschaut zu haben, sagte er Dinge wie: »Sie werden uns nicht töten, nicht jeden von uns. Das kann ich spüren.« Und dann fragte sie sich allen Ernstes, ob ihm die Ereignisse nicht vielleicht einen Teil seines Verstandes geraubt hatten.

Aber Styrmir war nicht verrückt, ganz gewiß nicht im Sinne einer Krankheit. Vielleicht ein wenig unbesonnen in seiner Einschätzung der Lage, vielleicht etwas wirr in seiner Vorstellung von Kampf und Niederlage und Tod. Aber nicht verrückt. Und Grimma wunderte sich, ob es das war, was ihr an ihm so gefieclass="underline" seine Andersartigkeit, der deutliche Unterschied zwischen ihm und den rohen Kriegern, mit denen sie früher das Lager geteilt hatte.

Das Lager teilen - liebe Güte. Als hätte sie keine anderen Sorgen.

Ein Schrei riß sie aus ihren Gedanken. Im ersten Augenblick glaubte sie, Bollis hätte ihn ausgestoßen, denn er wurde mit einemmal ungemein schwer in ihrem Griff, dann stolperte er und fiel. Doch als sie erschrocken zu ihm herabblickte, sah sie die Wurfaxt, die bis zum Anschlag zwischen seinen Schulterblättern steckte, und da wußte sie, daß dem Freund keine Zeit mehr geblieben war, einen Schrei auszustoßen.

Es war ein Kampfruf gewesen, und keine zwei Atemzüge später sah sie hinter sich mehrere Zwerge aus dem Dämmerlicht preschen, eine schnelle Vorhut der großen Streitmacht, die ihnen in größerer Entfernung folgte.

Es kam nicht zum Kampf. Nicht im Sinne eines Schlagabtauschs.

Grimma stürzte zwischen die überraschten Feinde, und ihre Axt hinterließ eine Spur aus Blut und zerschmetterten Leibern. Wie eine Furie kam sie über ihre Gegner, vier waren es, dann nur noch zwei und schließlich ein einziger, der sich umdrehen und fliehen wollte, doch Grimma spaltete ihm von hinten den Schädel und stieß ein schauriges Lachen aus, das die Kunde ihres Sieges weithin durch den Tunnel trug, hinauf gen Norden zur näherrückenden Schar der Verfolger, aber auch zurück zu Styrmir, und als sie zu ihm zurückkehrte, da sah sie ihm an, daß er sie mit einem gänzlich anderen Blick als zuvor betrachtete.

Sie beugte sich zu Bollis hinunter. Styrmir hatte die Axt bereits aus der Wunde entfernt, und jetzt war deutlich zu sehen, was die Waffe dem Zwergenkrieger angetan hatte. Grimma rollte den toten Freund auf den Rücken, küßte ihn auf die bärtigen Wangen, dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf und gab Styrmir das Zeichen, weiterzulaufen.

Sie kamen jetzt schneller voran. Warum hatte die Wurfaxt gerade Bollis getroffen, warum den Schwächsten, denjenigen, der ihre Flucht verlangsamt hatte? Sie werden uns nicht töten, hatte Styrmir gesagt, nicht jeden von uns. Das Schicksal meint es gut mit uns, dachte Grimma kalt, und wir werden einen Preis dafür zahlen. Am Ende werden wir zahlen für all unser Glück.

Sie fragte sich, was dieser Preis sein würde. Sie wußte nur, er würde höher sein als der Gewinn, den sie aus dieser Sache ziehen konnten - was kaum verwunderlich war, denn es gab keinen Gewinn, würde nie einen geben.

Und, wer weiß, vielleicht besaß das Schicksal ja Humor, und gerade die Tatsache, daß sie keinen Preis zahlen konnten, war ihm Preis genug?

»Es war ein Zug der Helden, ein Zug der Freude und der Hoffnung, in dem Grimma und ihre Krieger nach Süden eilten, und ihre Lieder und Gespräche waren bestimmt von der Gewißheit, daß sie das fast Unmögliche vollbracht hatten.«

Alberich schwadronierte nun schon seit einer halben Ewigkeit über die Großtaten seiner Ahnen, und Mütterchen bereute längst, daß sie ihn überhaupt gebeten hatte, über das Vergangene zu sprechen. Zumal sie noch immer nichts über die Lage des versteckten Tunneleingangs erfahren hatten.

Sie hatten mittlerweile über die Hälfte des Abstiegs bewältigt. Der Goldglanz des Hortes leuchtete unter ihnen wie ein See aus Feuer. Der Schatz hatte regelrechte Landschaften gebildet, sanfte Hügel und Täler aus glitzerndem Geschmeide, schroffe Verwerfungen und Steilwände aus purem Gold. Das Rund der Halle mochte einen Durchmesser von über hundert Mannslängen haben, und nirgends in dieser gewaltigen Fläche gab es auch nur eine Stelle, die nicht mit funkelnden Reichtümern bedeckt war. Vermutlich lag der eigentliche Höhlenboden mehrere Schritte unterhalb der Goldoberfläche, und einen Augenblick lang überkam Mütterchen die absurde Vision, inmitten all dieser Pracht unterzugehen wie in einem Gewässer, tiefer und tiefer zu sinken, durch Schichten aus Schmuck und Münzen zu tauchen, ohne jemals auf festen Grund zu stoßen. Sie schüttelte sich bei dieser Vorstellung, und doch vermochte sie den wohligen Schauder, der dabei in ihrem Räuberherz aufstieg, nicht völlig zu unterdrücken.

»Viele Wochen zogen die Zwerge durch den Tunnel«, fuhr Alberich fort, »und viele neue Geschichten und Verse entstanden während dieser Zeit. Denn was sonst hatten Grimma und die anderen zu tun, als Gedichte zu verfassen, Gesänge zu komponieren und ihre schartigen Waffen zu schärfen? Wie gerne wäre ich dabei gewesen, wie gerne wäre ich siegreich an Grimmas Seite zum Hohlen Berg zurückgekehrt und hätte dem König stolz Bericht erstattet...« Er seufzte tief und fügte dann weinerlich hinzu: »Aber was hilft es, der Vergangenheit nachzutrauern? Hier sind wir nun, wir vier Seite an Seite, und eine neue Herausforderung harrt unserer Klingen, unseres Geschicks und unserer -«

Löwenzahn unterbrach ihn mit einem langgestreckten Gähnen. »Sehr schön, Zwergling, wirklich, sehr schön. Gewiß hast du mit allem recht, was du sagst. Aber wie ging es denn nun weiter? Was für ein Empfang wurde Grimma bereitet, nachdem sie zurückkehrte zum Hohlen Berg und zu diesem König - wie hieß er noch gleich?«

»Thorhâl«, versetzte Alberich giftig. »Sein Name war Thorhâl, und er war ein größerer Herrscher als jeder, den das Hunnenvolk zwischen seinen Fellhütten und Pferdeställen jemals hervorgebracht hat!«

Löwenzahn zuckte nur mit den Schultern; Alberichs Worte berührten ihn nicht, er hatte sich nie wie ein wirklicher Hunne gefühlt. »Thorhall also«, meinte er.

»Nicht Thorhall!« schimpfte Alberich aufgebracht. »Hâl, hörst du, Dummkopf, Thorhâl. Mit langem, klangvollem A!«

»Von mir aus«, brummte Löwenzahn und verlagerte das Gewicht seines Bihänders einmal mehr auf die andere Schulter.

»Erzähl schon«, wandte Mütterchen sich an den Zwerg, um das Wortgeplänkel der beiden zu einem Ende zu bringen. »Wie war das nun, als Grimma zum König zurückkehrte?«

»Wie es war?« wiederholte Alberich naserümpfend. »Wie es war, willst du wissen? Was denkst du denn, wie es war?«

Mütterchen verdrehte die Augen.

»Laß uns raten«, meinte Löwenzahn trocken, und Geist piepste leise:

»Glorreich, nicht wahr?«

Zeit existierte nicht im Tunnel, jetzt nicht mehr, da die beiden Schreiber tot waren und ihre Sanduhren zerbrochen zwischen den Ruinen lagen. Es gab keinen Tag und keine Nacht, und schließlich wußten Grimma und Styrmir nicht einmal mehr eindeutig zu sagen, ob sie müde waren oder nicht. Sie schliefen dann, wenn ihre Füße sie nicht mehr weitertragen wollten, und sie aßen, wenn es ihnen gelang, in einem Wasserlauf einen blinden grauen Fisch zu fangen, der träge durch die Schwärze schwebte. Mitunter geschah das mehrmals in kurzen Abständen hintereinander, manchmal über lange Zeiträume überhaupt nicht. Aber waren die Zeiträume wirklich lang oder schienen sie ihnen nur so? Und spielten ihre Körper ihnen vielleicht nur hämische Streiche, wenn sie ihnen Schwäche signalisierten? Gab es überhaupt so etwas wie eine zeitliche Ordnung hier unten, wenn sie sich diese Ordnung nicht selbst erschufen, sei es durch Sanduhren oder das Zählen ihrer Schritte?