Irgendwann verklangen die Laute ihrer Verfolger hinter ihnen. Waren seit dem Beginn ihrer Flucht Tage vergangen, Wochen oder gar ganze Monde? Gelegentlich, aber nur sehr selten, erkannten sie bestimmte Stellen wieder, die ihnen bereits auf dem Hinweg aufgefallen waren. Manchmal waren das so unbedeutende Dinge wie eine ungewöhnliche Felsformation oder eine schillernde Ader im Gestein, manchmal auch Bäche und Wasserlöcher, die sich in ihrem Weg auftaten. Meistens begannen sie dann miteinander zu streiten, denn es kam selten vor, daß sie gleicher Meinung waren über den Zeitpunkt, da sie diese Stelle auf dem Weg nach Norden passiert hatten. Styrmir mochte sagen: »Hier waren wir im dritten Mond«, während Grimma sogleich widersprach und erklärte: »Es war im fünften, da bin ich vollkommen sicher.«
Doch trotz solcher Meinungsverschiedenheiten war Grimma froh, daß Styrmir an ihrer Seite war, und sie hörte ihm gerne zu, wenn er sich über die Berater des Königs und ihre hanebüchenen Ratschläge lustigmachte. »Man wird dazu erzogen, Unsinn zu reden«, erklärte er ihr einmal. »Es geht nicht darum, was man sagt, sondern darum, daß man überhaupt etwas sagt und der König es zur Kenntnis nimmt. Für die meisten Berater gibt es nichts Wichtigeres als einen Seitenblick Thorhâls, ein anerkennendes Nicken, sogar ein Schulterzucken. Sie sind selbst dann überglücklich, wenn er ihre Meinung mit einem Kopfschütteln abtut - sie haben dann das Gefühl, sie hätten eine mögliche Fehlentscheidung abgewandt.« Er lachte bitter. »Alles nur eine Frage der Sichtweise, schätze ich.«
Grimma lehrte ihn ihrerseits viel über das Kriegshandwerk. Dabei verschwieg sie nicht, daß auch sie das meiste davon nur aus den Erzählungen ihrer Ausbilder kannte. Vor dem Angriff der Nordlinge hatte es lange Zeit keinen offenen Kampf mehr im Hohlen Berg gegeben, und die Aufgaben der Krieger waren lediglich die einer Schutztruppe gewesen, die dafür sorgte, daß es keine Verbrechen oder gar Aufstände gab. »Aber so hatte sich keiner von uns seine Zukunft vorgestellt. Wir waren nicht Krieger geworden, um Taschendieben das Handwerk zu legen. Zumindest war es das, was wir uns Tag für Tag sagten, und hinter vorgehaltener Hand gab es viel Murren und Unzufriedenheit. Viele von uns waren froh, als die Nordlinge auftauchten. Endlich, so schien es, war die Zeit gekommen, unsere Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wir waren Narren, fürchte ich. Wir haben nicht weiter gedacht als bis zum Ende der Äxte, die wir in unseren Händen hielten.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Bollis, Egil und all die anderen wissen es heute vielleicht besser.«
»Und du selbst?«
»Ich bin Heerführerin der Armee vom Hohlen Berg«, sagte sie steif, »und das werde ich bleiben, bis ich selbst der Klinge eines Feindes unterliege oder mich das Alter dahinrafft, mögen die Götter mich davor bewahren! Ich kann nichts anderes sein als das, was ich bin, und ich kann keine andere Meinung vertreten als die einer Kämpferin. Ich kann mich nicht selbst verraten.«
»Aber du weißt, daß du unrecht hast«, sagte Styrmir beharrlich. »Du weißt, daß dieser Krieg falsch war - auch wenn du nichts an ihm ändern konntest -, und du weißt, daß diese Mission ein Fehler war. Wie kannst du immer noch dazu stehen?«
»Ich habe mich einmal darauf eingelassen, oder?« entgegnete sie müde. »Ich habe mich entschlossen, meine Krieger in den Kampf zu führen, und ich habe nicht abgelehnt, als Thorhâl mir auftrug, ins Nordland zu gehen. Ich habe nicht daran geglaubt, daß es richtig war, aber ich habe einem Befehl gehorcht, und zumindest das war richtig.«
»Unsinn!«
Sein Widerspruch machte sie nicht wütend, und das erstaunte sie selbst. »Du verstehst das nicht. Du bist kein Krieger. Du bist nicht erzogen worden wie ich.«
»Soll denn alles immer nur eine Frage dessen sein, was uns als Kindern beigebracht wurde? Damit machst du es dir sehr einfach, Grimma.«
»Vielleicht, aber es ist das, was ich gelernt habe«, sagte sie, sich des unheilvollen Kreislaufs, den sie damit eingestand, durchaus bewußt. Dennoch weigerte sie sich, ihre Vergangenheit zu verleugnen, all die Jahre, die sie an ihre Pflichten als Kriegerin geglaubt hatte. Sie konnte nicht über ihren eigenen Schatten springen, denn darauf lief es hinaus. Sie war - und es tat weh, sich das einzugestehen - zu schwach, um gegen sich selbst und ihr besseres Wissen anzukämpfen. Das war eine Schlacht, der sie aus dem Weg ging, vor der sie davonlief wie ein Schwächling vor der anrückenden Streitmacht der Feinde.
Sie mochten die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als Styrmir eines Tages (oder eines Nachts) etwas entdeckte.
»Das ist sonderbar«, sagte er, nachdem er in einem eiskalten Wasserloch nach Fischen getaucht und schließlich spuckend und keuchend an die Oberfläche zurückgekehrt war. »Dort unten ist eine Öffnung«, sagte er und rieb sich die Augen.
Grimma zuckte nur mit den Achseln. »Irgendwie muß das Wasser schließlich hierhergekommen sein.« Ihr Magen knurrte, und die Vorstellung, selbst in das Wasserloch hinabzutauchen, trug keineswegs dazu bei, ihre Laune zu heben.
»Es ist ein Tor, Grimma!«
»Wie meinst du das, ein -«
»Es ist viereckig, die Kanten sind gemauert, und dort drüben« - er zeigte zur anderen Seite des Gewässers - »führen Stufen nach unten.«
Grimmas Magenknurren wich einer anderen Art von Rumoren. Die Gleichgültigkeit, die seit einiger Zeit wie ein Kokon um ihr Gemüt zu liegen schien, verschwand auf einen Schlag. Erregung trat an ihre Stelle. Grimma sprang auf, umrundete die Wasseroberfläche und ging am gegenüberliegenden Ufer in die Hocke. Styrmir hatte recht. Sie konnte tatsächlich den oberen Absatz einer Treppe ausmachen, die geradewegs ins Wasser führte. Die Senke im Boden des Tunnels war nicht immer überflutet gewesen.
»Und du bist sicher, daß es ein Tor ist?« fragte sie Styrmir, der trotz der Kälte immer noch bis zur Brust im Wasser stand. Sie sah ihm an, daß er darauf brannte, seine Entdeckung genauer zu erkunden.
»Ein Durchgang, ungefähr so hoch wie ich selbst«, bestätigte er mit leuchtenden Augen. »Von Zwergen für Zwerge geschaffen. Wir sollten es uns genauer ansehen.«
»Wir würden beide ertrinken.«
»Du bleibst hier und wartest. Komme ich nicht schnell genug zurück, gehst du weiter und warnst den König.«
»Und was, wenn ich nicht will, daß du ertrinkst?« fragte Grimma lakonisch.
»Ich kann vielleicht nicht mit einer Axt umgehen, aber was Schwimmen und Tauchen angeht, gibt es gewiß manchen Zwerg, der sich dabei ungeschickter anstellt.«
Grimma schaute über das Wasser hinweg nach Norden. Der Tunnel lag weithin verlassen da, in der Ferne verschwamm alles in einem Dunst aus Dunkelheit. Ihre Verfolger schienen die Jagd schon vor geraumer Zeit abgebrochen zu haben. Dennoch hatten sie es eilig. Ausgedehnte Expeditionen in benachbarte Grotten oder Höhlensysteme kamen nicht in Frage.
»Ich komme mit«, entschied sie. »Und wenn auch nur, um darauf zu achten, daß du keine Zeit vergeudest.«
Styrmir grinste, und als er sah, wie Grimma zögerlich in das kalte Wasser stieg, lachte er lauthals auf. »Ich wußte gar nicht, daß du wasserscheu bist, große Kriegerin.«
»Kümmere dich um dich selbst, Königsberater.« Grimma hatte das Gefühl, als müßte ihr ganzer Körper zu Eis erstarren. »Wie hältst du es nur in dieser verfluchten Kälte aus?«
»Dein Anblick wärmt mein Herz.«
»Mach dich nur lustig.« Mit einem Keuchen ließ sie sich gänzlich ins Wasser gleiten, und wenig später folgte sie Styrmir in die Tiefe. Beide hatten ihre Äxte an ihren Gürteln befestigt. Das Wasserloch war tiefer, als Grimma vermutet hatte, und die undurchdringliche Schwärze unter ihr erschreckte sie. Sie hatte Wasser noch nie gemocht, und selbst die ungefährlichen Seen im Hohlen Berg hatten sie stets mit Unbehagen erfüllt. Die Tatsache, daß sie nicht sehen konnte, ob irgend etwas unter ihr in der Tiefe lauerte, machte sie unsicher.