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Als sie nach langem Abstieg endlich auf die feiernde Zwergenarmee stießen, war ihnen nicht nach Gesang und Bier zumute. Bollis reichte Grimma die sechs Hörner der Nordlinge, und sie wiederum brachte sie zu Thorhâl, dem König der Zwerge vom Hohlen Berg.

Thorhâl war hochgewachsen für einen Mann seines Volkes, fast so groß wie ein kleiner Mensch, und sein brauner, hüftlanger Bart war von Silberfäden durchzogen wie die Wand eines Bergwerksstollens. Seine grauen Augen blitzten weise und wach. Nicht einmal das Bier, das er zur Feier des Sieges krügeweise trank, vermochte einen Schleier von Trunkenheit über seinen klaren Blick zu legen. Er nahm die Hörner mit ehrfurchtsvoller Geste entgegen, schob sie wie Dolche unter seinen Gürtel, drei an jede Seite, dann legte er Grimma seine schwere Hand auf die Schulter.

»Einmal mehr hast du bewiesen, daß es eine richtige Entscheidung war, eine Frau zur Heerführin zu bestimmen«, sagte er laut, und dabei blickte er streitlustig in den Kreis seiner Berater. Sie alle hatten die Nasen gerümpft, als er Grimma den Posten angeboten hatte. Zwerge leben lange, zweihundert Jahre und mehr, und sie vergessen kaum etwas, und der Disput mit seinen Ratgebern war Thorhâl so frisch im Gedächtnis, als hätte er erst am Tag zuvor stattgefunden.

Grimma mochte es nicht, wenn der König auf ihr Geschlecht anspielte, ganz gleich wie wohlmeinend. »Erst der Kampf macht Krieger aus uns, und fortan ist es ohne Bedeutung, ob wir von Natur aus Kinder oder dumme Ideen gebären.«

Die Zwergenratgeber in ihren langen Roben zuckten merklich, doch Thorhâl brüllte vor Lachen, umarmte Grimma, wie er jeden seiner männlichen Heerführer umarmt hätte, und zog sie dann von den anderen fort.

»Ich brauche deinen Rat, Grimma«, sagte er, als die übrigen Zwerge außer Hörweite waren. »Die Nordlinge sind geschlagen, aber ich glaube, unser Kampf mit ihnen ist noch lange nicht am Ende.«

»Ihr fürchtet, es könnten noch mehr von ihnen hierherkommen?« Grimma war nicht überrascht. Ein jeder hegte diese Angst, und die kommenden Tage würden zeigen, ob sich etwas gegen diese Gefahr unternehmen ließ.

»Es wird zu weiteren Kämpfen kommen«, sagte Thorhâl, »aber nicht hier im Hohlen Berg.«

»Was habt Ihr vor?« Eine Ahnung beschlich sie, es war jedoch kein Gedanke, bei dem sie länger als nur einen Augenblick verweilen wollte.

Der König nahm Grimma beim Arm und wanderte einige Schritte mit ihr in einen verlassenen Minenstollen, der von dem breiten Hauptschacht fortführte, in dem die entscheidende Schlacht stattgefunden hatte. Grimma schätzte solche Vertrautheiten nicht; sie fürchtete, sie könnten Thorhâls listige Ratgeber zu ein paar lästigen Gerüchten ermuntern.

»Seit wie vielen Jahren sind wir nun schon dem Nibelungengeschlecht zur Treue verpflichtet, Grimma? Seit vierhundert, vielleicht fünfhundert?« Es war keine Frage, auf die er eine Antwort erwartete. Als die Nibelungenfürsten sich die Zwerge vom Hohlen Berg Untertan gemacht hatten, hatten sie zugleich jegliche Geschichtsschreibung des Zwergenvolkes ausgelöscht. Obwohl seither erst wenige Generationen vergangen waren, gab es längst mehrere Fassungen derselben Geschichte. Was hatte Thorhâls Vorgänger wirklich dazu bewogen, sich dem damaligen Fürsten der Nibelungen unterzuordnen? War es ein Duell gewesen, in dem der Zwergenkönig dem Fürsten Nibelung - dem ersten einer ganzen Reihe von Herrschern dieses Namens - unterlegen war? Oder war der Grund vielmehr eine mißlungene Wette, wie einige behaupteten? Oder aber, und das schien manchem die wahrscheinlichste, wenn auch beschämendste Möglichkeit, hatte der Zwergenherrscher dem Fürsten diesen Pakt vorgeschlagen, um als Preis dafür eine Nacht mit Nibelungs schöner Tochter zu verbringen? Für gewöhnlich fanden Zwerge nichts an den großen, dürren Menschenweibern, doch die enge Freundschaft des alten Königs zu den Menschen war bekannt und hatte manchen Anlaß für Vermutungen gegeben.

Was immer auch die wahre Ursache für die Bindung der Zwerge vom Hohlen Berg an die Nachfahren des Fürsten Nibelung war, so waren die Beziehungen zwischen beiden doch in all den Jahrhunderten niemals offen in Frage gestellt worden. Zwerge standen zu ihrem Wort, auch zu dem ihrer Urahnen, und so schürfte das Volk vom Hohlen Berg auch heute noch Tag für Tag in den Tiefen der alten Minen nach Gold und Silber, um daraus für Nibelungs Kinder und Kindeskinder den prachtvollsten aller Schätze zu fertigen. Schon jetzt war der Hort, der in der tiefsten Halle des Berges aufbewahrt wurde, der größte und herrlichste, von dem die Schreiber und Weisen je gehört hatten. Und obgleich die Nibelungen die Zwerge niemals wie Sklaven oder Leibeigene behandelt hatten, so gab es doch keinen Zweifel, daß sie in Wahrheit genau das waren - willige Arbeiter, die mit jedem Tag den Reichtum der Nachfahren Nibelungs mehrten.

Gewiß, im geheimen hatte es gelegentlich Pläne für eine Rebellion gegeben, für friedlichen, aber auch bewaffneten Widerstand, doch keines dieser Vorhaben war je in die Tat umgesetzt worden. Das Wort des einstigen Königs galt, auch heute noch, und selbst kommende Generationen würden sich daran halten müssen.

Als Thorhâl die Frage stellte, wie lange die Zwerge schon im Dienste der Nibelungen standen, wußte Grimma, auf was er hinauswollte. Und es erschütterte sie zutiefst.

»Ihr könnt nicht ernsthaft vorhaben -«, begann sie, wurde aber vom König unterbrochen.

»Die Nordlinge sind von unten in den Hohlen Berg eingedrungen«, sagte er mit fester Stimme, und da wurde Grimma klar, daß er seine Entscheidung längst getroffen hatte. »Wir haben immer gewußt, daß es unterirdische Wege gibt, über die unsere Vorfahren einst in dieses Land kamen. Doch nie hat jemand den geheimen Zugang zur alten Zwergenstraße wiedergefunden.«

Auch das war eine unumstößliche Tatsache. Die Lage des Zugangs war längst vergessen, und selbst die besten Höhlenspäher des Zwergenvolkes hatten ihn nicht mehr finden können - und das, obwohl Zwerge bekannt waren für ihre hervorragende Nase beim Aufspüren geheimer Türen und Tunnel.

Die Nordlinge waren vor zwei Wochen vollkommen unvermittelt im Inneren des Hohlen Berges aufgetaucht, und nur deshalb war es ihnen gelungen, die Zwerge derart in Bedrängnis zu bringen. Es hatte mehrere Tage gedauert, bis auch der letzte Zweifler einsah, daß die Feinde ganz offensichtlich die unterirdische Zwergenstraße benutzt hatten, um aus ihrer Heimat hierher zu gelangen. Sie hatten den verborgenen Zugang von unten aufgestoßen und waren geradewegs ins Herz des Berges einmarschiert.

»Das Tor ist offen«, sagte Thorhâl, hielt Grimma am Arm zurück und blieb stehen. Eindringlich schaute er sie an. »Seit Jahrhunderten ist dies unsere erste Möglichkeit, dem Joch der Nibelungen zu entkommen, ohne mit ihnen in offenen Streit zu treten. Es wird keinen Kampf geben, kein Blutvergießen. Wir werden einfach verschwinden, auf Wegen, die sie nicht kennen und auf denen sie uns nicht folgen können. Sie haben den Hort, und wenn er auch nicht weiter anwachsen wird, so sollte er ausreichen, um zwanzig Menschengenerationen unermeßlichen Reichtum zu bescheren.«

Grimma konnte es noch immer nicht glauben. »Ihr wollt tatsächlich von hier fliehen?«

»Wenn nicht jetzt, dann nie. Begreifst du denn nicht? Es ist unsere erste und einzige Möglichkeit!« Ein tatendurstiges Funkeln stand in seinen Augen, und Grimma las darin die klare Botschaft, daß er Widerspruch nicht dulden würde.

»Ihr habt mich um meinen Rat gebeten«, erinnerte sie ihn vorsichtig und kämpfte das zornige Brodeln in ihrem Inneren nieder. »Ich will ihn Euch geben, Thorhâl, ganz gleich, was Ihr darüber denken mögt.« Ihr Blick bohrte sich in seine Augen, und einen Moment lang war ihr, als zucke er unter ihrer Entschlossenheit zusammen. »Noch nie hat ein Zwergenkönig sein Wort gebrochen, ganz gleich ob gegenüber seinem eigenen Volk oder einem anderen. Noch nie, Thorhâl! Was Ihr vorhabt, ist ein Treuebruch ohnegleichen, und er wird das Geschlecht der Zwerge vom Hohlen Berg noch in Jahrhunderten wie ein böser Geist verfolgen. Selbst wenn es Euch gelingen sollte, jeden einzelnen unserer Brüder und Schwestern von Eurem Plan zu überzeugen, so nehmt Ihr damit eine Schuld auf Euch, die in der Geschichte der Zwerge einzigartig ist.«