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Schon nach wenigen Herzschlägen erkannte sie in der Wand der Senke das Tor, von dem Styrmir gesprochen hatte. Ohne Zögern tauchte er als erster hindurch. Als Grimma ihm folgte, bemerkte sie zu ihrer Erleichterung, daß dahinter kein langer überfluteter Stollen lag, sondern schon nach zwei, drei Schritten eine weitere Höhle. Prustend und nach Atem schnappend durchbrach Grimma die Oberfläche. Styrmir war neben ihr und schaute sich neugierig um.

Es war kein grob in den Fels geschlagener Hohlraum wie der Haupttunnel. Vielmehr befanden sie sich in einer Höhle, deren Wände mit Ziegelsteinen verkleidet waren, rechtwinklig nach oben gemauert und sauber verfugt, ganz anders also, als es die Zwerge heute gemacht hätten. Die Erbauer dieser Anlage waren zweifellos dieselben gewesen, die auch die Stadt im Nordland errichtet hatten; auch dort war mit Steinen gearbeitet worden. Damals, vor wer-weiß-wievielen Jahrhunderten, war die Baukunst der Zwerge jener der Menschen noch sehr viel ähnlicher gewesen, ein Umstand, der im Hohlen Berg längst in Vergessenheit geraten war.

Der Raum war sechseckig und maß in der Breite etwa zwanzig Schritte. Der Boden war nicht ebenerdig, sondern wurde nahezu vollständig von Treppenstufen eingenommen, deren untere Hälfte überflutet war. Hier herrschte das gleiche Dämmerlicht wie im Tunnel, ein fahles Schimmern des Gesteins, das nur von Zwergen wahrgenommen werden konnte.

Grimma und Styrmir schwammen mit wenigen Stößen ans Ufer und kletterten auf die trockenen Stufen. Weiter oben endete die Treppe an einer Plattform, die von vier schmucklosen Säulen begrenzt wurde. In der Rückwand der Plattform gab es einen weiteren schmalen Durchgang.

»Sieht aus wie eine Art Thronsaal«, sagte Grimma und spürte in sich einen Anflug von Ehrfurcht, den sie sich nicht recht erklären konnte.

»Oder wie ein Tempel«, bemerkte Styrmir.

Im Hohlen Berg gab es keine Tempel, jeder Zwerg betete, wann und wo er es für richtig hielt. Die meisten hatten es gänzlich verlernt. Götter taugten nur noch für Flüche und Fürbitten. Damals aber, als die alte Zwergenstraße durch die Felsen des Erdinneren getrieben worden war, mochte das anders gewesen sein.

Styrmir hatte die gleichen Gedanken. »Es ist genau wie bei den Menschen«, sagte er staunend.

»Wie meinst du das?«

»Die Christen errichten an ihren großen Handelsstraßen Kapellen, in denen sie einkehren und ihrem Gott huldigen. Genauso muß es bei unseren Vorfahren gewesen sein. Sie haben diesen Tempel angelegt, damit diejenigen, die auf der Zwergenstraße reisten, unterwegs nicht auf den Beistand der Götter verzichten mußten.«

»Aber warum gibt es im Hohlen Berg keine solchen Räume?«

Styrmir rieb sich Wasser aus den Augen. »Vielleicht haben die Bewohner der Nordlandstadt nach der Katastrophe, die ihre Höhlendecke zum Einsturz brachte, den Glauben an die Götter verloren. Als die Überlebenden nach Süden zogen, um ein neues Zuhause zu finden, sprachen sie sich von ihrem alten Glauben los und verzichteten fortan auf jede Art von Huldigung.«

Styrmirs Worte klangen überzeugend. Grimma ärgerte sich ein wenig, daß sie nicht allein darauf gekommen war.

»Laß uns nachschauen, was hinter dem Durchgang ist«, sagte sie und bemerkte plötzlich, daß Müdigkeit und Schwäche mit einemmal wie fortgewischt waren. Sie spürte in sich einen Tatendrang, wie sie ihn zum letzten Mal während der Schlacht im Hohlen Berg gefühlt hatte.

Gemeinsam mit Styrmir stieg sie die steile Treppe hinauf, bis sie die Plattform erreichten. Vorsichtig schauten sie um die beiden inneren Säulen zur Öffnung in der Rückwand. Dahinter lag im Dämmerlicht ein weiterer Höhlenraum. Die einzigen Geräusche, die sie hörten, stammten von Wassertropfen, die von der Decke hinab zur Oberfläche fielen. Vielleicht verlief hoch über ihnen ein Fluß. Oder aber - und dieser Gedanke flößte Grimma schlagartig Entsetzen ein - sie befanden sich unter dem Meeresboden, und über den Felsen erstreckte sich ein endloser Ozean.

Nein, beruhigte sie sich hastig, das war unmöglich. Sie waren schon zu weit gelaufen, sie mußten bereits irgendwo in den Ländern östlich des Rheins sein. Zwerge verabscheuten das Meer, mehr noch als das unruhige Grün der Wälder, und Grimma war keine Ausnahme. Die Vorstellung, daß sich über ihren Köpfen die Wellen eines Ozeans brachen, verursachte ihr Übelkeit.

»Ich gehe vor«, zischte sie Styrmir zu. Ehe er widersprechen konnte, hatte sie die Plattform bereits überquert und huschte mit gezogener Axt durch die Tür.

Die Kammer dahinter war kleiner als der Vorraum und doch um ein Vielfaches eindrucksvoller. Ihre Wände waren über und über mit Reliefen geschmückt, die meisten von Moos und Schimmelpilzen überzogen, und in den Boden war ein aufwendiges Mosaik eingelassen. Sämtliche Darstellungen zeigten Zwerge bei der Anbetung ihrer Götter. Letztere waren größer und filigraner gearbeitet, und obgleich sie lange Bärte trugen, glichen sie doch in ihrer Gestalt weit mehr den Menschen als den gedrungenen, breitschultrigen Zwergen. Grimma fragte sich einmal mehr, in welcher Beziehung Zwerge und Menschen dereinst gestanden hatten. Waren die Zustände im Hohlen Berg gar keine Ausnahme? Waren ihre Urahnen ein Dienervolk der Menschen gewesen? Der Gedanke erfüllte sie mit Abscheu.

Am anderen Ende des Höhlenraumes befand sich ein erhöhtes Podest, vielleicht eine Art Altar. Davor lagen auf einem Haufen allerlei alte Waffen, vom Schimmel zerfressene Kleidungsstücke, dazwischen Teile einer Rüstung. Auf Grimma wirkte dieser Anblick, als hätte irgendwer in größter Eile wahllose Opfergaben abgelegt, ohne sich die Zeit zu nehmen, sie zu sortieren oder entsprechend weihevoll darzubringen. Dies mußte während des großen Auszugs nach Süden geschehen sein. Die Hast, mit der die Gaben an die Götter abgeladen worden waren, ließ darauf schließen, daß die Zwerge damals überstürzt, beinahe panisch gehandelt hatten. Als wären sie vor etwas auf der Flucht gewesen. Hatten die Nordlinge sie schon damals nach Süden verfolgt und den Weg zum Berg ausgekundschaftet?

Styrmir trat hinter Grimma durch die Tür und blickte sich aufmerksam um. Mit unverhohlener Enttäuschung sagte er schließlich: »Sieht nicht aus, als würde uns das irgendwie weiterhelfen!«

»Was hast du denn erwartet? Eine Speisekammer?«

»Ich weiß nicht«, sagte er schulterzuckend. »Bessere Waffen vielleicht. Oder einen Hauch von Albenmagie.« Die Alben galten als die Urahnen der Zwerge, und ihr Zaubergeschick war der Stoff vieler Sagen.

Grimma schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Nichts als Legenden. Zwerge und Zauberei, das kann nicht gutgehen.« Je länger sie die Reliefe an den Wänden betrachtete, auf denen sich Zwerge demütig vor menschlichen Göttern verneigten, desto absurder erschien ihr die Vorstellung von der legendären Albenmagie und der Abstammung ihres Volkes von lange verschollenen Fabelwesen. Lügen, dachte sie erbost, seit Generationen erzählt man uns nichts als Lügen!

Am schlimmsten von allem aber war ein Gedanke, der ihr jetzt zum erstenmal kam: Waren die angeblichen Götter die Vorfahren der heutigen Nordlinge gewesen? War ihr Volk vor einem Stamm wilder Barbaren auf die Knie gesunken? Und waren die Zwerge, die in der Arena an der Seite der Nordlinge gekämpft hatten, nichts anderes als die Nachkommen jener Zwerge, die, aus welchen Gründen auch immer, in den Ruinen zurückgeblieben waren? Sie verbesserte sich selbst: Die Zwerge hatten nicht an der Seite der Nordlandkrieger gekämpft, sondern an deren Stelle. Der Unterschied war fein, aber bezeichnend: Noch heute waren die Zwerge im Nordland nichts als Sklaven, die im Kampf den Feinden vor die Klingen geworfen wurden. Falls es Grimma nicht gelang, Thorhâl von seinem Plan abzubringen, würde das Volk vom Hohlen Berg das ungestörte Leben im Dienst der Nibelungen geradewegs gegen die Sklavenketten der Nordlinge eintauschen.

Wer wußte schon noch, was damals wirklich geschehen war? Wann war der Zeitpunkt gekommen, an dem die Nordlinge von Göttern zu Gegnern geworden waren? Und wie konnte das stolze Volk der Zwerge zu einer Meute unterdrückter Handlanger verkommen?