Gerade wollte Grimma Styrmir auf die Reliefe und ihre mögliche Bedeutung aufmerksam machen, als er sagte: »Das sind Nordlinge, nicht wahr?« Dabei deutete er auf die steinernen Wandbilder. Er hatte längst dieselben Schlüsse gezogen.
Grimma gab kein Antwort, sondern nickte nur. Es tat viel zu weh, die Wahrheit auszusprechen.
»Wir müssen Thorhâl warnen.« Styrmir preßte die Worte widerwillig hervor, als beginge er damit einen Verrat. Schon wollte er sich abwenden und zurück in den Vorraum gehen, als Grimma sagte:
»Warte!« Sie eilte mit wenigen Schritten zu den Opfergaben, wischte mit der Axt Spinnweben und Staub beiseite. »Wenn das hier wirklich den Nordlingen dargebracht wurde, dann will ich wenigstens sichergehen, daß nichts darunter ist, das bei uns besser aufgehoben wäre.«
Styrmir trat neben sie und beugte sich ebenfalls über die Gegenstände. Grimma zog ein paar Kurzschwerter, Beile und Dolche aus dem Haufen, doch die meisten waren rostig oder von Grünspan überzogen. Die Kleider zerfielen schon bei der leichtesten Berührung zu faserigem Brei. Darunter lagen mehrere Schriftrollen, so brüchig, daß sie sich nicht öffnen ließen. Als Styrmir einige der Fetzen untersuchte, schüttelte er nur verständnislos den Kopf; die Schrift darauf hatte er nie zuvor gesehen. Grimma untersuchte derweil Teile einer Rüstung, Helm und Handschuhe aus Stahl, ein verrostetes Kettenhemd und Armschienen. Sie legte alles beiseite, grub tiefer in dem verrottenden Opferhaufen und beförderte schließlich etwas Sonderbares ans Licht. Styrmir zog scharf die Luft durch die Zähne.
»Was ist das?« fragte Grimma und hob das Ding mit spitzen Fingern in die Luft.
Es war ein feines Metallgewebe, aus winzigen Gliedern gefertigt, und es hatte die Form einer Kapuze, rundherum von gleicher Länge, so daß es das ganze Gesicht bis zum Kinn verbarg. Zwei Öffnung waren für die Augen freigelassen worden. Die Oberfläche hatte sich im Laufe der Jahre dunkel gefärbt, aber Rost war keiner zu sehen.
»Pures Silber!« entfuhr es Grimma beeindruckt. Nicht der Wert verblüffte sie, sondern die kunstvolle Verarbeitung. Die Kettenglieder, aus denen die Kapuze gewebt war, waren so klein, daß sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Niemals zuvor hatte Grimma etwas Derartiges gesehen. Trotz aller Pracht des Nibelungenhortes gab es im Hohlen Berg nichts von vergleichbarer Kunstfertigkeit.
Styrmir betrachtete es sachlicher, doch auch er konnte sein Erstaunen nicht gänzlich verhehlen. »Warum hat man so etwas einfach hier liegengelassen?«
»Nicht liegengelassen«, verbesserte Grimma düster. »Geopfert. Das ist ein Unterschied. Für die Götter nur das Beste.« Sie betrachtete die Kapuze von allen Seiten. »Ich frage mich nur, wofür das Ding gut sein soll? Im Kampf bietet es keinen Schutz, dazu ist Silber viel zu weich. Und als Schmuckstück verhüllt es das Gesicht des Trägers. Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Zieh es über«, verlangte Styrmir.
»Ich?« Grimma hob eine Augenbraue. »Warum nicht du?«
»Du bist eine Frau. An dir wird es besser aussehen.«
Grimma tat geschmeichelt, rollte die Ränder der Kapuze auf, hob sie mit beiden Händen hoch - und stülpte sie mit einer blitzschnellen Bewegung über Styrmirs Kopf.
Styrmir verschwand. Löste sich einfach in Luft auf. Im einen Augenblick stand er da, das Silbergewebe halb über das Gesicht gezogen, im nächsten war er fort.
Grimma ließ die Kapuze mit einem entsetzten Aufschrei los, taumelte zwei Schritte zurück und wäre fast über die Stufen des Altars gestolpert. Mit einer Hand fing sie ihren Sturz ab, mit der anderen riß sie ihre Axt vom Gürtel.
Ein wilder Fluch ertönte - Styrmirs Stimme! -, und nur wenige Herzschläge später war der verschwundene Zwerg wieder zu sehen, stand unverändert an derselben Stelle und schleuderte die Kapuze in weitem Bogen von sich.
»Was, bei allen Göttern, war das?« rief er aus, das Gesicht zur Grimasse verzerrt.
Grimma näherte sich zögernd dem verschlungen daliegenden Silbergewebe, sehr langsam, als fürchtete sie, die Kapuze könnte davonhuschen oder sie gar angreifen wie ein bizarres Lebewesen. Mit der Stiefelspitze stieß sie dagegen, hob sie dann mit der Axt vom Boden.
»Albenmagie!« flüsterte sie beeindruckt. »Also doch.«
Styrmirs Stimme klang flattrig, seine Züge unter der Gesichtstätowierung waren kreidebleich. »Ich konnte mich nicht mehr sehen... ich meine, ich hab’ an mir runtergeschaut, und ich war... einfach weg!«
»Unsichtbar«, murmelte Grimma zu sich selbst. Dann drehte sie sich zu Styrmir um. »Weißt du, was das ist?«
»Natürlich weiß ich das!« gab er giftig zurück, als hätte sie ihn in seiner Ehre gekränkt. »Eine Tarnkappe. Genau wie in den alten Legenden.« Und plötzlich wurde ihm klar, was er da gesagt hatte. »Dann ist es wahr«, flüsterte er atemlos.
Grimma nahm die Kapuze zaghaft von der Axtklinge und rieb das Silbergewebe zwischen den Fingern. »Was sonst, außer Magie, könnte so etwas erschaffen? Diese Glieder wurden nicht von Händen geformt.«
Styrmir lief aufgeregt im Raum auf und ab. »Vielleicht ist es gefährlich. Warum sonst, um alles in der Welt, hätte jemand dieses Ding einfach fortwerfen sollen?«
»Es wurde nicht fortgeworfen«, wies Grimma ihn zurecht. »Begreifst du das denn noch immer nicht? Die Zwerge, die nach dem Untergang ihrer Stadt hier vorbeizogen, haben ihren Göttern das Kostbarste geopfert, das sie besaßen. Sie waren verstört, völlig verzweifelt. Sie glaubten, nur so könnte es für sie noch eine Zukunft geben.« Grimma legte die Axt am Boden ab, krempelte die Kapuze auf und hielt sie sich über den Kopf.
»Du willst doch nicht -«
Sie grinste breit. »Du hast es doch gut überstanden, oder?«
»Trotzdem könnte es gefährlich sein.«
»Gefährlich war das, was wir im Nordland erlebt haben. Gefährlich war unsere Flucht durch den Tunnel und sogar das Tauchen durch das Wasserloch.« Sie setzte die Kapuze sanft auf ihr Haar und schob langsam die Seiten herunter. »Aber das hier? Wenn das die einzige Gefahr ist, mit der wir es von nun an zu tun haben, dann ist sie mir mehr als willkommen.«
Schon während ihrer letzten Worte war sie nicht mehr zu sehen. Ihre Stimme erklang aus vollkommener Leere. Sie machte einige Schritte durch den Raum und wäre fast gestolpert. Ohne den eigenen Körper sehen zu können, wurde jede Bewegung zu etwas Ungewohntem, Schwierigem. Styrmir stand da und drängte sie, sofort aufzuhören, doch Grimma beachtete ihn nicht. Mit jedem Schritt wurde sie sicherer. Schließlich beugte sie sich herab und hob ihre Axt vom Boden. Die Waffe schien sich in Luft aufzulösen. Zuletzt berührte sie Styrmir an der Schulter. Erschrocken fuhr er zusammen. Sein Fellwams blieb sichtbar, auch als Grimma ihre Hand darauf ruhen ließ. »Sie läßt nur den verschwinden, der sie trägt. Das ist großartig!«
Styrmir wollte nach ihr greifen, doch sie entzog sich ihm ohne jede Mühe. »Einen Moment noch«, bat sie. »Ich will mich erst daran gewöhnen.«
»Wer weiß, was du dir damit antust«, murrte er. »Vielleicht wird man krank davon, vielleicht hängt irgend etwas Ansteckendes daran.«
»Du bist doch kein Feigling, Styrmir, oder? Warum also jammerst du jetzt herum wie ein Waschweib?«
»Wenn du mich schon beleidigst, würde ich dir gerne dabei in die Augen sehen.«
Grimma seufzte und zog die Tarnkappe vom Kopf. »Du gibst keine Ruhe, was? Willst du es auch noch mal versuchen?«
Er hob abwehrend beide Hände. »Bleib mir damit nur vom Hals!«
»Du bist mir ein schöner Königsberater«, stichelte sie schmunzelnd. »Stürzt dich in den Kampf wie einer, der sein Leben lang nicht anderes getan hat. Aber vor solch einem Stück Silber läufst du davon.«