»Es ist Magie. Damit hat es selten etwas Gutes auf sich.«
Grimma stopfte die Tarnkappe in ihren Hosenbund. »Laß uns weitergehen. Wir können unterwegs überlegen, was wir mit der Kappe tun.«
»Du würdest gerne zurückgehen und es den Nordlingen zeigen, nicht wahr?« sagte Styrmir, als sie die Treppe zum Wasser hinabstiegen.
Grimma befestigte die Axt am Gürtel und watete in die nasse Kälte. »Vielleicht später«, zischte sie knapp, dann tauchte sie unter.
Styrmir war in der Tat ein guter Schwimmer. Obwohl Grimma zuerst ins Wasser gestiegen war, überholte er sie unter der Oberfläche und tauchte vor ihr durch das Verbindungstor zum Tunnel. Einen Moment später hatte Grimma ihn im Dunkeln aus den Augen verloren. Ein Anflug von Panik überkam sie, und sie wollte ihm übereilt hinterhergleiten. Doch im Gegensatz zu Styrmir hatte sie vor dem Untertauchen wegen der Aufregung über den Fund nicht auf ihre Atmung geachtet. Jetzt ging ihr die Luft aus, noch bevor sie das Tor passierte, und sie hatte keine andere Wahl, als so schnell wie möglich aufzusteigen. Hustend durchbrach sie die Oberfläche, immer noch innerhalb des Tempels. Sie rief sich zur Ruhe und wartete ungeduldig, bis ihr Atem besänftigt war. Dann tauchte sie abermals unter, durchschwamm das Tor und blickte aus der schwarzen Tiefe zur helleren Wasseroberfläche im Tunnel empor. Styrmir schwamm immer noch dort oben umher, sie konnte ihn von unten schemenhaft erkennen. Sicher machte er sich Sorgen um sie.
Gelassen stieg sie auf und überlegte, ob sie ihn von unten am Bein packen sollte, um ihn zu erschrecken. Sie schaute hinauf und sah, daß er ihr entgegenblickte. Sein Gesicht war unter Wasser, schaute nach unten und wirkte durch die Fluten bleich und verschwommen. Konnte er sie schon sehen? Grimma verwarf den Gedanken an ihren Streich. Was war überhaupt in sie gefahren? Sie waren keine Kinder mehr. Und nur, weil sie ihn mochte, mußte sie sich nicht aufführen wie ein junges Mädchen. Als nächstes würde sie sich noch Blumen ins Haar stecken!
Sie hatte die Oberfläche fast erreicht, als ihr etwas Sonderbares auffiel. Der Lichtschimmer, der von oben herabfiel, war dunkler geworden. Und er war rot.
Mit einem Aufschrei, der in einer Flut von Luftblasen erstickte, bremste Grimma ihren Aufstieg und ließ sich zurück in die Tiefe sinken. Die Luft ging ihr aus. Ihre Brust fühlte sich an, als müßte sie jeden Augenblick auseinanderplatzen.
Hoch über ihr trieb Styrmirs Körper in einer blutroten Aura aus Dämmerlicht. Seine Beine und Arme waren abgespreizt, vollkommen reglos. Sein Gesicht schaute immer noch nach unten, die Augen weit aufgerissen und dennoch blind. Dunkelrote Wolken wogten in pulsierenden Schüben um seinen Schädel.
Strampelnd, jetzt vollends in Panik, stieß Grimma gegen die Felswand. Ihre Hände tasteten umher, fanden den Rand des Tores, zogen sich hindurch. Auf der anderen Seite, im Vorraum des Tempels, raste sie dem Licht entgegen. Brach mit einem wilden Schrei durch die Oberfläche. Sog die Luft ein, bis sich ihre Lungen zu verkrampfen schienen.
Abgekämpft schleppte sie sich die vorderen Stufen empor ins Trockene, saß da, die Hände vors Gesicht geschlagen und dennoch unfähig, Tränen zu vergießen.
Sie hätte nicht jedes der Gefühle benennen können, die in ihr tobten, und doch war da eines, das alle anderen überwog, mehr noch als ihre Trauer um den Freund: Haß loderte wie ein verzehrendes Feuer in ihr, und als sie die Tarnkappe aus dem Hosenbund zog und über ihren Kopf streifte, da tat sie es mit keinem anderen Gedanken, als mit ihrer Hilfe so viele Leben wie möglich zu vernichten.
Sie packte mit unsichtbarer Hand ihre Axt, watete zurück ins Wasser und tauchte abermals hinab zum Tor. Sie stieß mit der Schulter gegen den Rand, weil sie kein Gefühl für ihre eigene Breite und Form hatte, schwamm trotzdem weiter und jagte auf der Tunnelseite der Wasseroberfläche entgegen. Sie war unsichtbar, gewiß, und doch würde das Wasser sie verraten. Ihre Gegner mußten Styrmir erwartet haben, als sein Kopf durch die Oberfläche stieß. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal gesehen; sie hatten ihn erschlagen, bevor er sich noch die Nässe aus den Augen reiben konnte. Grimma konnte das gleiche passieren, unsichtbar oder nicht, falls einer der Feinde zuschlagen würde, sobald sich die Oberfläche bewegte. Aber sie hatte keine andere Wahl. Ihr einziger Wunsch war es, so viele Gegner wie möglich mit in den Tod zu nehmen. Selbst Thorhâl und das Volk vom Hohlen Berg waren in diesem Augenblick vergessen.
Das Licht kam näher und mit ihm Styrmirs Leichnam und die Klingen der Feinde. Grimma raste wie ein Geschoß empor, brach durch die Oberfläche und zog sich ins Trockene, ohne sich umzuschauen. Ihr einziger Vorteil war die Überraschung. Wenn das Staunen ihrer Gegner über das aufgewühlte Wasser erst in Begreifen umschlug, war es zu spät.
Grimma sprang auf, eine Explosion aus Wassertropfen, die von ihrem unsichtbaren Körper in aller Richtungen spritzten. Doch ihre Befürchtung, sich dadurch zu verraten, war unbegründet. Die neun Nordlandzwerge, die am Ufer des Wasserlochs standen, waren starr vor Staunen. Sie hatten noch immer nicht begriffen, weshalb sich das Wasser bewegte, als sei etwas von unten heraufgestiegen, obwohl nicht das geringste zu sehen war.
Grimma lachte, ein eisiges Lachen als Vorspiel des Tötens. Ungeachtet aller Regeln ehrenvollen Kampfes fuhr sie unter die Feinde, spaltete mit ihrer unsichtbaren Waffe Schädel, hieb Glieder entzwei und zertrümmerte Gesichter. Sie schlug nicht gezielt zu, ließ einfach die Axt umherwirbeln, als besäße sie eigenes, unheilvolles Leben. Blut sprühte aus Wunden und Stümpfen, Knochen splitterten und Innereien ergossen sich prasselnd über den Höhlenboden. Und noch immer gab es keine Gegenwehr. Innerhalb weniger Augenblicke lag ein halbes Dutzend Zwerge tot oder sterbend am Boden, und der Rest ergriff in heilloser Panik die Flucht. Grimma ließ keinen davonkommen. Unsichtbar stürmte sie ihnen hinterher und erschlug zwei von hinten. Der letzte ließ sich schreiend zu Boden fallen, rollte sich zusammen wie ein junger Hund und schlug die Hände vors Gesicht. Seine Waffe hatte er längst verloren, sie war gemeinsam mit seinem Verstand auf der Strecke geblieben. Einen Herzschlag lang erwog Grimma, ihn am Leben zu lassen, dann aber erinnerte sie sich an Styrmirs fahles Gesicht, das mit leeren Augen von der Wasseroberfläche in die Tiefe starrte, als suche er dort nach einem besonders schönen Fisch. Die Axt schien in ihrer Hand vor Erregung zu vibrieren. Der Zwerg am Boden konnte sie nicht sehen, zuckte nur zusammen, als die Doppelklinge seine Seite aufriß. Das Leben entwich wie Wasser aus einem leckgeschlagenen Schlauch, und seine Glieder zitterten noch, als der Tod längst an seiner Seite stand.
Grimma verharrte über dem Leichnam und fragte sich mit grotesker Sachlichkeit, weshalb ihr Herz plötzlich in ihren Ohren zu schlagen schien statt in ihrer Brust - da, sie konnte es doch ganz genau hören, ein dumpfes Klopfen, so schnell, daß es fast zu einem einzigen, langgestreckten Ton verschmolz. Sie blickte auf den Toten herab, ohne ihn wirklich zu sehen, als sei er unsichtbar wie sie selbst und mit ihm der Tunnelboden und alles, was darunter lag. Sie schaute geradewegs hinab zum glühenden Kern der Welt, ein gleißendes Licht, das ihr aus der Tiefe entgegenflammte und mit feurigen Armen nach ihr zu greifen schien. Sie mußte davor davonlaufen, jetzt gleich, so schnell sie nur konnte, weiter nach Süden, dem Ende ihrer Mission entgegen.
Dem Ende entgegen, dachte sie noch einmal, und der Gedanke erfüllte sie mit neuer, ungewohnter Ruhe.
KAPITEL 6
»Grimma und ihr Trupp marschierten eilig wie der Wind, der durch den Tunnel streifte, und endlich, nach vielen, vielen Monden, kehrten sie zurück zum Hohlen Berg.« Alberich breitete in einer pompösen Geste die Arme aus, als wollte er selbst die Heimkehrer in die Arme schließen. »Die Krieger wurden unter großem Jubel empfangen, und König Thorhâl begrüßte Grimma wie seine eigene Schwester. Fest schloß er sie in seine Arme und dankte ihr für all die Mühen und Entbehrungen, die sie für das Volk der Zwerge auf sich genommen hatte. Grimma berichtete ihrerseits, was sie und ihre Männer im Nordland vorgefunden hatten. Stolz gab sie Kunde vom Kampf gegen die verhaßten Nordlinge, und wie es gelungen war, ihnen in der Ruinenstadt den Garaus zu machen. Thorhâl ernannte die Helden, die an Grimmas Seite gekämpft hatten, zu Heerführern, und Grimma selbst sollte fortan seine engste Beraterin sein. Nie zuvor war einer Kriegerin solche Ehre zuteil geworden.«